Autor: Medusa Mabuse
Kapitel 1 - Ich nenne dich Chandni
Carlotta erhebt sich steif aus ihrem großen Sessel hinter dem monströsen Schreibtisch. Ihr Gesicht wirkt versteinert und zeigt keinerlei Regung. Ihr Blick hingegen heftet sich auf den Kriminalbeamten, der ihr gegenübersteht und im Begriff ist, sich zu verabschieden.
»Bemühen Sie sich nicht, Señora Martinez, ich finde allein hinaus.« Er ist etwas irritiert, vielleicht deshalb, weil die alte Dame sehr gefasst ist. Viel zu sehr, was ihn üblicherweise sofort stutzig werden lässt. Andererseits kennt er sie schon sehr lange, da seine Töchter seit Jahren ihre Tanzschule besuchen. Aus diesem Grund hat er es persönlich übernommen, sie von dem tödlichen Anschlag auf ihren Sohn und ihre Schwiegertochter zu unterrichten.
»Herr Köhler«, wendet sie sich nun an ihn, wobei er bemerkt, dass sie jetzt doch um Fassung ringt, sich aber rasch wieder im Griff hat. »Würden Sie mich über die Ermittlungen informieren?«
Der Beamte nickt ihr freundlich zu und deutet gleichzeitig auf seine Visitenkarte, die er auf ihren Schreibtisch gelegt hat. »Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Ich versichere Ihnen, dass wir die Täter fassen werden.«
Carlotta sinkt in ihren Sessel zurück, während der Kriminalbeamte das Arbeitszimmer verlässt. Erst als sie das Geräusch der zufallenden Haustür hört, beugt sie sich wieder nach vorne zum Schreibtisch, um die Schublade unter der Arbeitsplatte zu öffnen. Ihr entnimmt sie ein kleines, rotes Notizbuch.
»Das kann ich nicht zulassen«, raunt sie in die Stille des Raumes, als sie das Büchlein auf der Suche nach einer ganz bestimmten Nummer durchblättert. Bevor sie zum Telefon greift, wirft sie einen kurzen Blick auf die Kaminuhr. Sie zögert einen Moment, in dem sie überlegt, ob sie den Anruf verschieben soll, da es in den Staaten erst früher Morgen ist, aber die Angelegenheit duldet keinen Aufschub. Bereits eine knappe Minute später hört sie eine sehr verschlafene Stimme, die jedoch hellwach klingt, als sie sich meldet.
»Carlotta, was ist passiert?«
»Tut mir leid, Laura, dass ich dich so früh störe. Es ist in der Tat etwas Entsetzliches geschehen. Juan und Sunehri wurden heute Vormittag in ihrem Wagen erschossen.« Sie hält kurz inne, denn es auszusprechen macht es so endgültig, aber für Trauer hat sie jetzt keine Zeit. Ehe sie weitersprechen kann, ruft Laura bestürzt:
»Das ist ja furchtbar, Carlotta. Das tut mir schrecklich leid. Wie geht es dir? Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Die alte Dame ist erleichtert, dass sie so schnell ihre Hilfe anbietet, denn das ist der eigentliche Grund für diesen Anruf.
»Soeben war ein Beamter der Kriminalpolizei bei mir. Laura, ich muss dich um einen Gefallen bitten. Du musst verhindern, dass die Kripo ermittelt. Ich kann mir vorstellen, wer dahintersteckt. Sollten die Täter gefasst werden, bringt mir das meine Kinder aber nicht zurück. Viktor dagegen erfährt vielleicht davon. Das will ich unter allen Umständen vermeiden. Kannst du in den nächsten Tagen vorbeikommen? Ich möchte mich darüber nicht weiter am Telefon unterhalten.«
»Du bist gut«, erwidert die Frau am anderen Ende aufgebracht. »Wie stellst du dir das vor? Unser Arm reicht zwar weit, doch ich glaube kaum, dass das FBI die Ermittlungen eines Mordfalles in Europa verhindern kann. Hast du überhaupt eine Ahnung, in was für eine Situation du mich dadurch bringst? Ich könnte veranlassen, dass die Presse aus dem Fall herausgehalten wird. Vielleicht besteht auch die Möglichkeit, die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden zu lassen, sollte es tatsächlich zu einer Verhaftung kommen. Mehr kann ich dir momentan nicht zusichern. Wie dem auch sei, ich fliege, so schnell es geht, nach Deutschland. Bestimmt kann ich dir dann schon sagen, wie wir weiter vorgehen. Mach dir wegen Viktor keine Sorgen. Er wird nach wie vor beobachtet. Er verhält sich ruhig. Agiert nur noch im Hintergrund. Ich denke nicht, dass er noch immer nach dir sucht.«
»Das Risiko kann ich nicht eingehen. Das verstehst du doch?«
»Das tue ich, natürlich. Hast du denn einen Verdacht, wem am Tod von Juan und Sunehri gelegen ist?«
Bevor Carlotta antwortet, atmet sie erst einmal geräuschvoll aus, denn sie hat nicht nur einen Verdacht. Für sie steht absolut fest, wer dahinter steckt. »Das indische Syndikat, wer sonst? Immerhin wird Sunehris Familie seit Jahren bedroht. Es ist ja nicht das erste Mal, dass diese Verbrecher zu solch drastischen Mitteln greifen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Deshalb will ich auch nicht, dass die Polizei weitere Nachforschungen anstellt. Ich will nicht, dass das Gesindel zurückkehrt und sich vielleicht auch noch an Adrianna vergreift. Sie ist das Einzige, was mir noch geblieben ist.«
»Na gut, dann werde ich meine Fühler in dieser Richtung ausstrecken. Wo treffen wir uns? Kannst du nach München kommen? Das wäre einfacher für mich.«
»Sag mir nur, wann du ankommen wirst, dann hole ich dich vom Flughafen ab. Alles Weitere besprechen wir danach.«
»Dann bis in ein paar Tagen und Carlotta, es tut mir wirklich leid.«
Darauf kann die alte Dame nicht mehr antworten. Sie beendet das Gespräch rasch, als sie spürt, wie sich ihr Herz zusammenzieht und sich ein dicker Kloß in ihrem Hals bildet.
Ihr Blick fällt auf einen Bilderrahmen, der neben dem Telefon steht. Aufschluchzend greift sie danach und streicht mit zitternden Fingern darüber. Das Foto ist erst einige Wochen alt und zeigt drei lachende, glückliche Menschen. Ihr Sohn, ihre Schwiegertochter und ihre Enkelin sind darauf abgebildet. Es schmerzt sie unsagbar, dass Juan und Sunehri nicht wieder nach Hause kommen und Adrianna ohne ihre geliebten Eltern aufwachsen muss. Nun kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Das Bild verschwimmt vor ihren Augen. Von Trauer überwältigt sinkt sie in ihrem Sessel zusammen und gibt sich dem Schmerz über den Verlust ihrer Kinder hin.
Das Arbeitszimmer liegt bereits im Dunkeln, als sich Carlotta erhebt. Adrianna, ihre Enkeltochter, wird bald von einem Ausflug mit ihrer Freundin Carmen zurückkehren. Das Mädchen soll sie aber nicht so aufgelöst vorfinden. Carlottas Beine gehorchen ihr nur zögernd, als sie ins Badezimmer geht. Sie fürchtet sich vor dem Moment, wenn Adrianna nach Hause kommt. Wie soll sie einem Kind von knapp sieben Jahren beibringen, dass es keine Eltern mehr hat.
In dieser Nacht in Deutschland:
Adrianna wälzt sich unruhig im Schlaf und murmelt vor sich hin. »Wo ist er nur. Ich muss dorthin. Sonst können wir uns nicht finden.« Diese Worte wiederholt sie immer wieder, doch mit einem Mal verschwindet diese Unruhe. Sie sinkt in tiefen, festen Schlaf.
Das Mädchen schaut sich neugierig um. Sie ist in einem beeindruckend großen Saal, in dessen Mitte ein Tisch mit einem riesigen Kerzenleuchter steht, der das einzige Licht spendet. Dieses wird reflektiert von deckenhohen Spiegeln, die, eingefasst von barocken Rahmen, dicht an dicht an den mit dunkelrotem Stoff bespannten Wänden hängen. Die Decke ist mit kunstvoll geschnitzten Holztafeln verkleidet und der Parkettfußboden ist so blank poliert, dass man sich fast darin spiegeln kann.
Adrianna dreht sich ein paar Mal im Kreis und betrachtet den Saal, als sie eine leise, fröhliche Melodie hört. Sie kann nicht erkennen, woher sie kommt, deshalb schlendert sie durch den Raum und lauscht den Klängen, die sie trotz ihrer Traurigkeit ein wenig aufheitern.
Da es in diesem imposanten Saal keine Stühle gibt, lässt sich das Mädchen vor einem der Spiegel auf den Boden sinken. Eine Weile sitzt sie einfach nur starr vor sich hinblickend da, und denkt traurig darüber nach, was ihre Großmutter ihr heute erzählt hatte. Mom und Dad würden nicht mehr kommen, denn sie seien jetzt im Himmel und würden in Zukunft von dort über sie wachen.
Nur ganz allmählich begreift das Kind das Ausmaß dieses Verlustes. Sie beginnt bitterlich zu weinen, zieht dabei langsam die Beine an und legt die Stirn auf ihre Knie. Ihr kleiner Körper bebt vor Kummer. ‚Warum Mama, warum seid ihr gegangen. Warum habt ihr mich nicht mitgenommen? Habt ihr mich nicht mehr lieb? Ich will, dass ihr zurückkommt!‘ Der Schmerz über den Verlust der geliebten Eltern lässt sie heftig schluchzen.
Während sie noch verzweifelt an ihr Unglück denkt, spürt sie, wie jemand ganz sachte ihren Kopf berührt. Blinzelnd versucht sie zu erkennen, wer außer ihr noch hier ist, und tatsächlich erblickt sie neben sich einen Jungen, der ungefähr in ihrem Alter ist.
Ebenso wie Adrianna, hat er einen etwas dunkleren Hautton und schwarzes, dichtes Haar. Der Knabe sieht sie mitfühlend an, rückt ein Stück näher und hält dabei ihren Blick gefangen. ‚Whow, seine Augen leuchten wie grüne Edelsteine‘, überlegt sie fasziniert, als sie ihn betrachtet und für einen winzigen Augenblick vergisst sie sogar ihren Schmerz.
Seine Hand streicht sanft über ihre Wange. Schüchtern lächelnd fragt er sie: »Magst du mir erzählen, warum du so sehr weinen musst?«
Adrianna grübelt eine Weile über das Auftauchen des Jungen. ‚Wo ist er auf einmal hergekommen? Wie kann er in meinem Traum sein? Ich kenne ihn doch gar nicht.‘ Sie kaut dabei an ihrer Lippe, was sie ständig tut, wenn sie angestrengt nachdenkt. ‚Dad, ist er derjenige, den ich finden sollte? Aber warum jetzt? Mom, du hast gesagt, dass ich jemandem im Traum begegnen würde. Wenn die richtige Zeit da ist. Ich will viel lieber, dass ihr bei mir seid.‘
Ihre Eltern hatten ihr erzählt, dass sie irgendwann einmal in ihren Träumen einem ganz besonderen Menschen begegnen wird, der sie fortan begleiten würde. Lange glaubte sie daran, so wie sie an die Märchen glaubte, die ihr Vater ihr vorlas. Seit einiger Zeit jedoch war sie nicht mehr davon überzeugt. Sie hörte sich die Geschichten zwar gerne an, machte sich aber ihre eigenen Gedanken darüber.
Es gibt keine verzauberten Frösche, die sich in Prinzen verwandeln. Genau so wenig wie Prinzessinnen, die hundert Jahre schlafen und danach immer noch jung und wunderschön aufwachen. Aschenputtel existiert vielleicht tatsächlich, aber dass eine Zauberin einen Kürbis in eine Kutsche verhext, ist nichts weiter als eine alberne Fabel.
Wenn also all diese Erzählungen nichts als Erfindungen sind, ist es vermutlich auch nicht wahr, dass sie jemandem im Traum begegnet. Selbst wenn doch, warum gerade heute, am schlimmsten Tag ihres Lebens? Steckt möglicherweise doch ein Funken Wahrheit dahinter? Haben ihre Eltern den Jungen zu ihr geschickt, damit sie nicht alleine ist? Daran würde sie nur allzu gerne glauben, auch wenn sie viel lieber Vater und Mutter bei sich hätte. Doch sie sind tot. Kein Zauber der Welt wird ihr die geliebten Eltern je wieder bringen.
Während all dieser Überlegungen hält sie den Blick auf den Knaben gerichtet, der stumm neben ihr sitzt und sie mitfühlend ansieht. Entgegen ihren sonstigen Träumen kann sie seine Nähe spüren, was sie verwirrt, denn sie hat den Eindruck, als kenne sie ihn schon sehr lange. Obwohl sie sich sicher ist, dass sie ihm noch niemals zuvor begegnet ist, empfindet sie eine tiefe Verbundenheit mit ihm. Deshalb beschließt sie, ihm zu vertrauen.
Sie hat das Gefühl, dass er sie verstehen und stets für sie da sein wird. ‚Ich weiß einfach, dass er für immer und ewig mein Freund sein wird‘, überzeugt sie sich selbst, bevor sie dem Jungen schluchzend ihr Herz ausschüttet.
Ohne sie zu unterbrechen, hört er ihr aufmerksam zu, legt fürsorglich einen Arm um ihre Schultern. Als sie zu Ende erzählt hat, wiegt er sie leicht hin und her. Er lässt ihr dadurch etwas Zeit, sich zu beruhigen. Außerdem verschafft ihm das auch die Gelegenheit, die richtigen Worte zu finden, um sie zu trösten.
»Das ist echt schlimm mit deinen Eltern. Ich wäre bestimmt auch sehr traurig. Aber du musst keine Angst haben. Ich werde dich immer beschützen. Dir wird nichts passieren.«
Adrianna spürt, dass er es sehr ernst meint. Auf ihn könnte sie sich stets verlassen. ‚Er ist wirklich lieb‘, überlegt sie, während sie ihn nachdenklich betrachtet. ‚Nicht so wie die Jungs aus dem Kindergarten. Die ärgern mich dauernd. Ich mag ihn‘, beschließt sie, als sie sich aufrichtet, um ihn anzusehen. »Danke, du bist nett. Wie heißt du eigentlich? Mein Name ist ...«
In eben diesem Moment, als sie ihren Namen preisgeben will, tritt Carlotta vorsichtig an das Bett ihrer Enkelin. Strenggenommen ist heute Adriannas erster Schultag, nach allem, was sich am Vortag zugetragen hat, will sie dem Kind aber nicht zumuten, heute in die Schule zu gehen. Eine Weile betrachtet sie Adrianna und entschließt sich, als sie das Lächeln des schlafenden Kindes bemerkt, sie aufzuwecken.
»Adrianna«, flüstert sie und streichelt zärtlich ihre Wange. »Wach auf, Plappermäulchen.« So nennt sie ihre Enkeltochter, seit diese zu sprechen gelernt hatte. Adrianna redet, wenn sie aufgeregt ist, ohne dabei Luft zu holen, was es beinahe unmöglich macht, ihren Gedankengängen zu folgen.
Blinzelnd schlägt das Mädchen nun die Augen auf. Ihre Großmutter zieht sie an sich und streicht ihr über den Kopf .
»Du musst nicht zur Schule. Wenn du willst, nehme ich dich heute Vormittag mit in meine Tanzschule. Würde dir das gefallen?«
Adriannas Augen blitzen kurz auf. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, aber sofort wird sie wieder ernst. »Kommen Mom und Dad zurück, wenn ich nicht in die Schule gehe?«
Kaum merklich schüttelt Carlotta den Kopf und flüstert zögernd: »Nein, mi corazón, sie kommen nie wieder.«
»Dann gehe ich zur Schule. Du hast gesagt, dass sie im Himmel sind und zu uns herunterschauen. Sie wären bestimmt böse, wenn ich schon am ersten Tag schwänze.«
»Ganz wie du willst, mi corazón. Dann mache ich jetzt Frühstück und du ziehst dich rasch an.«
Mit einem Kopfschütteln verlässt Carlotta das Zimmer, während Adrianna noch liegen bleibt.
‘Gestern hat mich Mama geweckt’, überlegt sie, dabei steigen wieder dicke Tränen in ihre Augen. ‘Sie wird mich nie mehr wecken oder mich vom Kindergarten abholen.’ Traurig richtet sie sich auf und greift nach dem Foto ihrer Eltern, das neben dem Bett auf dem Nachttisch steht. Mit den Ärmeln ihres Schlafanzugs fährt sie sich über das Gesicht, damit sie das Bild genauer ansehen kann. ‘Wer liest mir jetzt Gute-Nacht-Geschichten vor?’ Erneut rollen Tränen über ihre Wangen, die sie mit der Hand abwischt. »Ich hab euch lieb«, flüstert sie und drückt ihre Lippen auf die Fotografie. ‘Ich gehe zur Schule und lerne lesen. Dann kann ich dir Geschichten vorlesen, Papa. Und ich werde mit dir singen, Mama. Es war so lustig mit dir im Auto zu fahren. Du hast immer gesungen. Das werde ich auch tun.’
Nachdem sie das Foto noch einen Augenblick traurig betrachtet, stellt sie es zögernd zurück. »Weißt du, Mama, heute Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Da war ein Junge, der mich getröstet hat. Es war fast so, als wäre er wirklich da gewesen.«
Selbst in ihren Ohren klingt es verrückt, als sie sich das sagen hört, obwohl sie es erlebt hat. Deshalb richtet sie den Blick nun fragend auf das Bildnis ihrer Mutter, ganz so, als erwarte sie ausgelacht zu werden, was natürlich nicht geschieht. Sie seufzt deswegen erleichtert auf und denkt an die vergangene Nacht. ‚Dieser Junge ist wirklich freundlich. Überhaupt nicht so wie die anderen Jungs, die ich kenne. Schade, dass er mir seinen Namen nicht verraten konnte. Das nächste Mal werde ich ihn danach fragen.\'
Nach wie vor spürt sie die Trauer über den Verlust der Eltern, ist aber überzeugt, einen Freund fürs Leben gefunden zu haben, von dem sie sicher wieder träumen wird. Und davon muss sie unbedingt ihrer Freundin Carmen erzählen.
In der gleichen Nacht in Bombay:
Siddharth schläft unruhig. Er wälzt sich von einer Seite zur anderen und redet dabei. »Ich muss sie finden. Sie ist so alleine, so traurig. Sie braucht jemanden, der sie tröstet.« Allmählich jedoch gleitet auch er in einen tiefen Schlaf.
Zunächst stolpert er durch die Dunkelheit, bis er in einiger Entfernung einen Lichtschein bemerkt und ein leises, bitterliches Schluchzen hört. Bekümmert blickt er sich um. Er sucht das Mädchen, das so weint, ist sich sicher, dass es ein Mädchen ist. Als er sie endlich entdeckt, kniet er sich neben sie.
Voller Sorge betrachtet er sie, doch sie hat die Stirn auf die Knie gelegt. Siddharth sieht nichts als dunkelbraune, lange Locken. Langsam streicht er ihr über das Haar, und als sie verwundert den Kopf hebt, erblickt er staunend ihr wunderschönes betrübtes Gesicht. Ihre Augen sind riesengroß und so dunkel, dass sie fast schwarz scheinen. Noch nie hat er so ein hübsches Mädchen gesehen, und obwohl sie so voller Kummer ist, glitzert es freundlich in ihren Augen. Vorsichtig, fast scheu, um sie nicht zu erschrecken, streichelt der Junge sanft ihre Wange, und fragt:
»Magst du mir erzählen, warum du so sehr weinen musst?«
Er vermutet, dass sie abwägt, ob sie ihm trauen kann, denn sie sieht ihn mit großen schimmernden Augen an. ‚Ich habe sie endlich gefunden. Sie ist so schön und so traurig. Ich wünschte wirklich, dass ich sie trösten könnte. Sie soll nicht mehr so trübselig sein. Wie gerne wäre ich ihr Freund. Dann würde ich sie immer zum Lachen bringen. Ihre Augen funkeln bestimmt, wenn sie lacht.‘
Während er darüber nachdenkt, blickt er ihr aufmunternd entgegen und schließlich beginnt sie zu erzählen. Siddharth hört entsetzt, was ihr passiert ist. Obwohl er das Mädchen nicht kennt, spürt er ihre Verzweiflung. Hilflos und ebenso niedergeschlagen wie sie, sitzt er neben ihr und überlegt, was er sagen soll. Er weiß, dass er irgendetwas tun sollte, aber noch nie in seinem Leben hat er so etwas Furchtbares gehört. ‚Wenn mein Dad und meine Mom tot wären, könnte ich nie mehr fröhlich sein. Was soll ich ihr denn sagen. Wie soll ich sie denn trösten?‘
Ohne die geringste Ahnung, was sie vielleicht von ihm erwartet, legt er den Arm um sie und drückt sie sanft an sich. Um die Stille zu durchbrechen, spricht er dann einfach aus, was ihm gerade in den Sinn kommt. »Das ist echt schlimm mit deinen Eltern. Ich wäre bestimmt auch sehr traurig. Aber du musst keine Angst haben. Ich werde dich immer beschützen. Dir wird nichts passieren.«
Es ist ihm wirklich ernst damit. Sie ist so unglücklich und alleine, braucht einen Freund, der für sie da ist, und das will er sein. Er hält sie noch schützend im Arm, als sie den Kopf hebt und ihn vorsichtig ansieht.
»Danke, du bist nett. Wie heißt du eigentlich? Mein Name ist ...«
Bevor er ihren Namen hört, wird Siddharth wachgerüttelt. »Los raus, du Schlafmütze. Aufstehen.«
Enttäuscht darüber kriecht er tiefer unter die Bettdecke und murmelt erstickt: »Bitte nicht, Mama. Nur noch ein paar Minuten.« Aber seine Mutter übergeht seine Bitte. Sie zieht die Decke, unter der er sich verkrochen hat, einfach weg.
Er will danach greifen, doch Naina hat sich bereits neben ihn gesetzt und hält sie hinter ihrem Rücken versteckt. Immer noch mürrisch, dass der Traum so abrupt beendet wurde, setzt er sich auf. Das fröhliche Gesicht seiner Mama bringt seine gute Laune jedoch schnell zurück, denn er ist glücklich, dass er dieses Mädchen kennengelernt hat. Aber er ist ebenso bekümmert und sieht vorsichtig zu Naina. »Wärst du sehr traurig, wenn ich dich doch nicht mehr heirate, Mama?«
»Warum möchtest du mich nicht mehr heiraten, mein Schatz?«
Ihr überraschtes, gleichzeitig fragendes Gesicht verunsichert ihn, deshalb legt er seine Hände an ihre Wangen und erwidert ernst: »Ich habe dich wirklich lieb, Mama. Aber ich habe heute Nacht ein Mädchen kennengelernt. Sie werde ich heiraten, wenn ich groß bin.«
Um weiteren Fragen auszuweichen, befreit er sich rasch aus ihrer Umarmung und läuft ins Badezimmer, denn er kann es ihr nicht erklären. Es ist einfach ein Gefühl, das ihn beherrscht, seit er das Mädchen gesehen hat.
Während Siddharth die Zähne putzt, denkt er über den Traum nach. ‚Das war ein seltsamer Traum. Ich mag das Mädchen. Sie ist nett. Gar nicht so wie die Mädchen, die ich kenne. Das nächste Mal muss ich sie unbedingt nach ihrem Namen fragen.\' Auch Siddharth ist sich sicher, dass sie sich wieder treffen werden.
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Drei Jahre später ...
Adrianna ist ganz aufgeregt, denn am nächsten Tag ist ihr zehnter Geburtstag. Endlich darf sie mit ihrer Oma in deren Tanzschule gehen. Sie liebt es, sich zur Musik zu bewegen, allerdings hatte sich ihre Oma bisher geweigert, sie auszubilden.
Ihre Großmutter hatte zwar schon bald das Talent ihrer Enkelin erkannt, wollte ihr aber das Tanzen nicht zu früh beibringen. Schade nur, dass Carmen kein Interesse daran hat. Es wird das erste Mal sein, dass Adrianna etwas ohne ihre beste Freundin lernen würde, weshalb Carlotta nicht sicher ist, ob die Begeisterung ihrer Enkelin für den Tanz anhalten wird.
Allmählich sinkt Adrianna in seligen Schlaf und befindet sich wieder in dem ihr mittlerweile sehr vertrauten Spiegelsaal, wo sie ungeduldig auf ihren Freund wartet. Seit jener Begegnung vor drei Jahren treffen sich die Kinder Nacht für Nacht in ihren Träumen.
Zwischen den beiden hat sich eine tiefe Freundschaft entwickelt, aber sie kennen immer noch nicht den Namen des Anderen. Jedes Mal, wenn einer die Frage danach stellt oder ihn selbst preisgeben will, wachen sie auf. Deshalb haben sie aufgehört zu fragen und genießen stattdessen die gemeinsamen Stunden.
Wie aus dem Nichts steht der Junge neben ihr. Es ist jede Nacht das Gleiche. Wenn sie sich treffen, fassen sie sich an den Händen und hüpfen übermütig zum Klang der Musik quer durch den ganzen Saal, bis sie kaum mehr Luft bekommen. Woher die Melodie kommt, wissen sie nicht, aber es ist stets eine andere. Manchmal traurig oder fröhlich, teils leise, gelegentlich auch laut, je nachdem, in welcher Stimmung die Kinder sind.
Als sie ihren Freund entdeckt, erzählt sie ihm aufgeregt die Neuigkeit. »Morgen ist mein Geburtstag. Meine Großmama nimmt mich mit in ihre Schule. Da sind nur Leute, die tanzen. Nur tanzen, sonst nichts. Ich war schon öfter zu Besuch dort. Das war ganz toll. Wie die sich bewegen. Genauso wie die Musik ist. Manche von denen können so gut tanzen, die erzählen dir Geschichten mit ihren Tänzen. Du kannst die Musik sehen.«
Mit weit aufgerissenen, strahlenden Augen greift sie nach Siddharths Händen und wirbelt mit ihm im Kreis herum. Der Junge lacht mit ihr und hält sie fest, damit sie nicht hinfällt. Er muss wirklich lachen, denn das Mädchen ist so aufgeregt, dass sie plappert. Sie sprudelt nur so vor Übermut, was ihm sehr gefällt.
»Wenn du gut genug bist, dann können wir ja gemeinsam tanzen.« Er zwinkert ihr dabei zu, denn er liebt es, sie zu necken.
»Ach du! Du kannst doch gar nicht tanzen. Jungs können überhaupt nicht tanzen«, entgegnet sie darauf vorlaut, doch ihre Antwort missfällt Siddharth.
Er bleibt abrupt stehen, wodurch Adrianna beinahe stolpert, aber er fängt sie geschickt auf und erklärt ihr energisch: »Ich werde einmal berühmt für meine Tänze. Die ganze Welt wird wissen, wer ich bin. Wirst schon sehen.« Er will aber nicht mit ihr streiten, deshalb nimmt er wieder ihre Hände und wirbelt ausgelassen mit ihr umher.
»Und ich denke mir die Tänze aus, die du dann vorführst«, ruft ihm Adrianna atemlos zu und lacht mit ihm, denn auch sie will nicht mit ihm zanken. Erst als sie fast keine Luft mehr bekommen, lassen sie sich auf die Knie fallen und strahlen sich glücklich an.
Eine Weile sitzen sie nur so da, lachen, halten sich an den Händen. Dann auf einmal wird Siddharth ernst und sucht Adriannas Blick.
Sie begehrt heftig auf. »Nein nicht. Lass das. Du darfst mich nicht nach meinem Namen fragen. Ich frage dich auch nicht. Ich will nicht, dass der Traum schon wieder zu Ende ist.« Adrianna schüttelt wild den Kopf und hält sich die Ohren zu.
»Hör mal. Wir kennen uns jetzt schon so lange. Ich will endlich wissen, wie du heißt. Wie soll ich dich denn nennen? Ich kann doch nicht immer ‘hey du’ sagen!« Er sieht sie dabei trotzig an. ‚Sie hat bestimmt einen wunderschönen Namen. Wenn ich ihn doch nur herausfinden könnte.\' Traurig erhebt sich der Junge und lässt enttäuscht den Kopf hängen. Er weiß zwar, dass die Frage nach ihrem Namen den Traum beendet, doch er brennt darauf, ihn zu erfahren.
Adrianna steht nun ebenfalls auf, blickt nachdenklich zurück. Sie kann es nicht leiden, wenn er so bedrückt ist, deshalb sagt sie stockend:
»Wir können uns ja Namen ausdenken. Ich überlege mir einen für dich und du dir für mich, okay? Und morgen treffen wir uns wieder. Dann werden wir uns beim Namen rufen können.«
Siddharth, überrascht und erfreut von ihrem Vorschlag, nimmt Adriannas Arm und wartet, bis sie ihn ansieht. »Ich habe bereits einen Namen für dich. Ich nenne dich Chandni. Das bedeutet Mondlicht. Weil wir uns nur in unseren Träumen begegnen.«
Für einen Moment kommt es Adrianna vor, als würde ihr Herz ungewöhnlich laut schlagen. ‚Das klingt schön‘ überlegt sie, bevor sie ihm antwortet. »Oh, das ist ein wundervoller Name. Ich mag ihn. So einen tollen Namen kann ich gar nicht für dich finden.«
Aus Freude über ihren neuen Namen umarmt sie ihn. »Akash!«, ruft sie auf eimal und ist überrascht, denn es kommt wie von selbst aus ihrem Mund. ‚Akash‘, wiederholt sie in Gedanken und sieht Siddharth verwirrt an. »Ich kenne dieses Wort überhaupt nicht. Es gefällt mir. Was mag es wohl bedeuten?«
Der Junge blickt verlegen zurück, denn er kennt dessen Bedeutung. »Es heißt der Himmel«, erklärt er ihr, woraufhin sie begeistert ausruft:
»Das passt doch! Ich werde dich Akash nennen. Weil es mit dir immer so wunderschön ist. Wie im Himmel.«
Als Carlotta an diesem Morgen in Adriannas Zimmer kommt, liegt ein seliges Lächeln auf deren Gesicht. Ganz sanft weckt sie das Mädchen, nimmt sie behutsam in ihre Arme und gratuliert ihr herzlich zu ihrem Geburtstag.
Adrianna umarmt ihre Großmutter ebenfalls, dabei plappert sie sofort munter drauf los: »Guten Morgen, Omi, ich freue mich schon so auf die Tanzschule. Werden mich die anderen nicht auslachen? Ich kann doch noch gar nicht tanzen. Weißt du, dass ich einen neuen Namen habe? Mein Freund im Traum hat mir einen geschenkt. Er nennt mich Chandni. Das bedeutet Mondlicht. Ich nenne ihn Akash. Das bedeutet der Himmel. Akash wird einmal ein berühmter Tänzer. Ich werde mir die Tänze für ihn ausdenken.«
Carlotta erschrickt, als sie ihre Enkelin so reden hört. Woher kennt das Kind diese Worte? Soweit sie wusste, hatte ihre Schwiegertochter nie Hindi mit ihr gesprochen.
»Adrianna Juanita Martinez. Ganz ruhig, junges Fohlen. Wenn du unablässig plapperst, kannst du dich nicht für die Schule fertigmachen. Hast du es dir anders überlegt? Möchtest du gar nicht mehr mit mir kommen? Wenn du nicht zum Unterricht gehst, dann bekommst du auch keine Tanzstunden.«
Adrianna stößt einen spitzen Schrei aus, befreit sich hastig aus Carlottas Armen und rennt ins Badezimmer. Von dort ruft sie: »Ich beeile mich, versprochen. Ich gehe in die Schule. Weil ich unbedingt tanzen lernen will.«
Vor dem Spiegel stehend murmelt sie, »Ich werde die beste Tänzerin auf der Welt. Und ich denke mir immer neue Tänze aus. Die werde ich alle Akash zeigen, damit er sie vorführen kann.«
Während sie sich für den Tag frisch macht, denkt sie glücklich an ihren Traum. ‚Endlich kann ich ihn beim Namen rufen. Mein Akash,. Mein bester Freund Akash. Davon muss ich unbedingt Carmen erzählen.\'
Sie kann sich genau vorstellen, wie ihre Freundin auf diese Neuigkeit reagieren wird. Die beiden erzählen sich stets alles und Carmen fragt sie beinahe jeden Morgen nach ihren Träumen. Dabei verdreht sie verzückt die Augen und ruft jedes Mal begeistert aus: »Ach AJ!«
Carmen nennt sie so, seit sie sich im Kindergarten kennengelernt hatten. Ihr Vater arbeitet im Generalkonsulat in München und nimmt seine Familie oft auf Reisen mit. Dadurch waren sie schon häufiger in den Staaten und Carmen lernt begeistert die englische Sprache. Deshalb benutzt sie die Anfangsbuchstaben der Vornamen Adriannas, nämlich Adrianna Juanita, und spricht sie in amerikanischer Art aus.
»AJ«, wird sie rufen. »Ich wünschte, ich hätte auch so entzückende Träume wie du.« Bei dem Gedanken daran muss Adrianna lachen, denn für Carmen ist zurzeit alles entweder entzückend oder entsetzlich.
Carlotta eilt unterdessen in die Küche. Dort nimmt sie das Telefon, wählt und wartet ungeduldig, dass der Teilnehmer am anderen Ende das Gespräch entgegennimmt.
»Chandra? Waren in letzter Zeit Fremde in Adriannas Nähe?« Sie hört gespannt, was der Mann zu berichten hat und erwidert am Ende erleichtert: »Gut, ich danke dir. Bitte pass gut auf. Sorge dafür, dass das so bleibt. Ich möchte meine Enkelin nicht auch noch verlieren.«
Sie ist froh über das, was ihr der Mann berichtet hat, doch es erklärt immer noch nicht, woher Adrianna diese Worte kennt. Der Junge, von dem ihre Enkelin seit Jahren träumt, hat ihr die Namen vermutlich beigebracht und darüber muss sie schmunzeln. Denn sie freut sich, dass auch Adrianna die Fähigkeit des Träumens geerbt hat, doch als sie sich nun umdreht, bemerkt sie ihre Enkelin, die in der Tür steht.
»Wer ist Chandra, Oma?«
Schuldbewusst und verlegen macht sie sich daran, den Tisch zu decken und antwortet ihr nur ausweichend. »Ach niemand. Er hat sich nur verwählt. Möchtest du jetzt frühstücken? Ich habe all deine Lieblingssachen eingekauft.«
Adrianna kaut nachdenklich an ihrer Lippe. Sie weiß, dass ihre Großmutter etwas vor ihr verheimlicht. Aber sie kommt einfach nicht hinter das Geheimnis. »Ich will nur Tee und Müsli«, antwortet sie deshalb enttäuscht.
Schweigend und völlig in Gedanken versunken sitzen beide am Tisch.
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Fünf Jahre später ...
Adrianna liegt auf ihrem Bett und telefoniert mit Carmen. Sie muss ihre Freundin trösten, denn sie hat den ersten Liebeskummer. Ein Junge aus ihrer Parallelklasse hat ihr Herz erobert, nimmt sie aber gar nicht wirklich wahr. Deshalb läuft sie in letzter Zeit ziemlich verheult herum.
Allmählich wird es Adrianna jedoch zu bunt, deswegen redet sie aufgebracht auf ihre Freundin ein. »Hör sofort auf mit dem Geheule. Ich möchte, dass du dich vor den Spiegel stellst und dich genau anschaust. Was siehst du?«
»Verquollene Augen und eine rote Nase«, antwortet sie schluchzend. »Das ist so ungerecht, AJ. Du bist ...«
»Schluss jetzt«, unterbricht Adrianna die Freundin ungeduldig, denn sie weiß schon, worauf das wieder hinausläuft. Carmen würde sich mit ihr messen, dabei sind die Freundinnen so unterschiedlich, dass man sie gar nicht miteinander vergleichen kann.
Carmen ist ziemlich groß und schlank. Ihre hellblonden, gelockten, Haare reichen ihr bis zur Schulter. Normalerweise strahlen ihre Augen in tiefstem, fast violettem Blau, aber die Tränen lassen sie zurzeit recht matt erscheinen. Ihre Stupsnase zieren unzählige Sommersprossen und sie hat zwei niedliche Grübchen neben den Mundwinkeln die sich, wenn sie lacht, noch vertiefen.
Adrianna hingegen ist etwas kleiner, schmaler, ja beinahe dürr. Ihre langen Haare, die, genau wie ihre Augen, fast schwarz sind, und ihr in üppiger Pracht bis zur Hüfte reichen, trägt sie ausnahmslos hochgesteckt.
»Lass endlich das Gejammer sein. Komm auf andere Gedanken. Lächle doch mal dein Spiegelbild an. Du wirst sehen, was ich meine. Du bist wirklich schön. Ich beneide dich um deine helle Haut. Ich wirke immer so schmutzig neben dir.«
Sie hört Carmen selbst durch das Telefon schlucken und es tut ihr sofort leid, dass sie so schroff zu ihr war. Bevor sie jedoch etwas sagen kann, antwortet ihre Freundin kleinlaut:
»Entschuldige, AJ. Ich weiß, dass ich eine Heulsuse bin. Ich gelobe Besserung, das verspreche ich dir. Du darfst nicht mehr böse mit mir sein.«
Noch ehe die Freundin wieder zu schluchzen beginnen kann, lacht Adrianna ins Telefon. »Also gut. Wenn morgen alles anders ist, dann bin ich nicht mehr sauer. Schlaf gut und träum was Lustiges.« Damit legt sie auf.
Eine Weile liegt sie noch wach, denkt an ihre Freundin und deren Liebeskummer. ‚Ich werde mich nicht verlieben. Das ist doch albern, dass man sich dabei so schlecht fühlt. Wozu soll das gut sein, wenn man doch nur leidet.\' Während sie noch darüber nachdenkt, schläft sie langsam ein.
In ihrem Traum wartet Adrianna ungeduldig auf Akash, denn er hat heute Geburtstag. Weil sie ihm nichts überreichen kann, hat sie sich einen Tanz für ihn ausgedacht, den sie nun, als ihr das Warten zu lange dauert, noch einmal übt.
Da sie ihn sehr mag, ist es ihr wichtig, ihm eine Freude zu bereiten, ihn zu überraschen und dabei keinen Fehler zu machen. Sie kann es überhaupt nicht leiden, wenn er enttäuscht ist, weil seine Augen dann so seltsam funkeln. Gleichzeitig sehen sie derart schön aus, dass man den Blick gar nicht mehr abwenden möchte.
‚Willst du nur vor dich hinträumen oder den Tanz üben? Wenn du nicht achtgibst, fällst du vor ihm auf die Nase. Also los, sonst ist er am Ende wirklich noch enttäuscht.‘ Adrianna ruft sich zur Ordnung, schließlich muss sie sich auf den Tanz konzentrieren und darf an nichts anderes denken, aber ihre Gedanken schweifen von neuem zu ihrem Freund ab.
In den letzten Jahren haben sie viel zusammen getanzt. Jeden Schritt, den Adrianna gelernt hat, zeigte sie auch Akash, der ihre Leidenschaft teilt. Er kann ebenso gut tanzen wie sie. ‚Vielleicht sogar besser‘, überlegt sie und kaut dabei wieder einmal an ihrer Lippe.
In diesem Moment taucht Siddharth auf. Ehe er zu ihr geht, beobachtet er sie eine Weile. ‚Sie ist ein tolles Mädchen. Ich kenne niemanden, der so ist wie sie. Nie sucht sie Streit. Selbst wenn sie traurig ist, genügen ein paar Worte, um sie zum Lachen bringen. Wenn sie lacht, dann lacht die ganze Welt. Und ihre Augen glänzen wie zwei tiefe Seen.\'
»Chandni! Wartest du schon lange?«
Adrianna blickt erfreut auf und läuft jubelnd auf ihren Freund zu. »Herzlichen Glückwunsch zu deinem fünfzehnten Geburtstag, Akash. Ich kann dir zwar kein richtiges Geschenk überreichen, aber ich habe einen Tanz für dich. Magst du ihn dir ansehen?« Mit strahlenden Augen sieht sie zu ihm auf.
Er grinst sie schelmisch an und zwinkert ihr frech entgegen. »Bekomme ich denn keinen Kuss zum Geburtstag?«
Ohne sich Gedanken darüber zu machen, tritt sie näher an ihn heran. Sie legt ihre Hände auf seine Schultern, wie sie es schon so oft getan hat, wenn sie zusammen tanzten, doch dieses Mal ist es anders. Für einen Moment hat sie das Gefühl, als würden winzige Stromschläge durch sie hindurch fließen. Sie spürt, wie er ihre Taille umfasst, und als sich ihre Blicke treffen, durchströmt sie ein heftiges Kribbeln. Seine Augen funkeln dunkel und lassen ihr Herz schneller schlagen.
Verwundert und neugierig schaut Siddharth in ihr Gesicht, denn er spürt eine Veränderung. ‚Ich habe sie doch schon früher angefasst, wenn wir getanzt haben. Heute fühlt es sich seltsam an.\' Sein Herz schlägt hart in seiner Brust und sein Mund fühlt sich wie ausgetrocknet an.
Adrianna stellt sich auf die Zehenspitzen, nähert sich zögernd seinem Mund und dann, ganz leicht, berührt sie seine Lippen, doch einen Wimpernschlag später wachen beide erschrocken auf.
‘Was ist das für ein eigenartiges Gefühl?’ Adrianna fällt es schwer, ruhig zu atmen, denn ihr Herzschlag beruhigt sich nur langsam und mit zittrigen Fingern berührt sie ihre Lippen, die immer noch prickeln. Für einen winzigen Augenblick hat sie ein schlechtes Gewissen, befürchtet, etwas Falsches getan zu haben. Diesen Gedanken schiebt sie jedoch rasch beiseite. Obwohl sie sich nicht erklären kann, was gerade geschehen ist, legt sich ein seliges Lächeln auf ihr Gesicht, als sie die Augen schließt. In dieser Nacht träumt sie jedoch nicht mehr von ihrem Akash.
Siddharth geht es wie Adrianna. Die kurze Berührung ihrer Lippen hat ihm fast den Atem geraubt, sein Mund ist immer noch ganz trocken. Aufgewühlt wälzt er sich im Bett umher, und als er endlich wieder ruhig atmen kann, flüstert er in die Dunkelheit: »Ich liebe dich, Chandni.«
In der folgenden Nacht:
Adrianna läuft nervös im Spiegelsaal umher und kaut unentwegt an ihrer Lippe, weil sie sich nicht sicher ist, ob sie Akash wiedersehen wird. Den ganzen Tag hat sie an ihn denken müssen, daran, dass sich etwas geändert hat. Sie ist verwirrt und kann sich ihre Gefühle nicht erklären. Es ist, als hätte jemand einen Eimer voller Schmetterlinge in sie hineingekippt, die seither aufgeregt in ihr umherflattern.
Bisher dachte sie ohne Scheu an ihren Freund. Aber nun? Sie kennt ihn sehr genau, weiß, was ihn wütend macht. Seine Stimme dröhnt dann laut und seine Nasenflügel blähen sich auf. Wenn er traurig ist, spricht er meist nur flüsternd, während auf seiner Stirn eine Ader hervor tritt. Sein Lachen ist ansteckend und dabei strahlen seine wunderschönen grünen Augen.
Den Blick, den er ihr gestern zugeworfen hatte, konnte sie nicht einordnen. Er sah sie an, als wäre sie eine Fremde, doch sein Gesicht hatte einen zärtlichen Ausdruck, den sie vorher noch nie bemerkt hatte. Der Gedanke an die vergangene Nacht verstärkt das Kribbeln in ihrem Inneren und mit einem Mal sieht sie ihren Freund mit anderen Augen.
‚Akash ist eigentlich hübsch anzuschauen. Warum ist mir das bisher nicht aufgefallen?‘ Dabei betrachtet sie sich gedankenverloren im Spiegel und rümpft die Nase, ist unzufrieden mit dem, was sie sieht, denn sie hat noch immer eine mädchenhafte Figur und wünscht sich einmal mehr, schon so weibliche Rundungen wie ihre Freundin zu haben. ‚Akash ist so schön, groß und stark. Er sieht aus wie Adonis‘, schwärmt sie vor sich hin und hofft unterdessen inständig, dass er bald kommen möge.
»Träumst du?«, hört sie nur wenig später Akashs Stimme und sofort beginnt ihr Herz wieder zu rasen. Er lächelt ihr zu, aber es ist nicht das gleiche Lächeln wie sonst, es ist irgendwie traurig, weshalb sie ihn nun besorgt ansieht.
»Ist etwas geschehen? Du siehst ziemlich geknickt aus.«
Siddharth hat befürchtet, dass sie die Veränderung spüren würde. Er kann es nicht erklären, aber er sieht Chandni mit anderen Augen. Sie ist schon fast eine junge Frau. Seine Chandni ist zwar immer noch das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte, aber sie ist eben kein Mädchen mehr. Wenn er an sie denkt, beschleunigt sich sein Herzschlag. Er spürt, wie sich die feinen Härchen auf seinen Armen und im Nacken aufrichten und ein aufregendes Prickeln seinen Körper überzieht.
»Warum sollte ich auch fröhlich sein? Du hast mir gestern einen Tanz versprochen. Ich habe ihn aber nicht bekommen«, entgegnet er ausweichend und hofft, dass sie ihm diese kleine Lüge abkauft.
»Es tut mir leid«, flüstert Adrianna verlegen. »Der Traum war vorbei, bevor ich dir dein Geschenk geben konnte. Bist du mir böse?«
Siddharth möchte am liebsten Schreien. Er will sie in seine Arme reißen und ganz fest halten. Gleichzeitig will er mit ihr tanzen und sie herumwirbeln, stattdessen zwinkert er ihr schelmisch zu. »Ja, ich bin dir böse. Ich stehe nun schon eine Ewigkeit hier. Und du hast mich noch nicht richtig begrüßt. Und meinen Tanz will ich trotzdem noch haben.« Mit einem Funkeln in den Augen verschränkt er die Arme und blickt ihr herausfordernd entgegen.
Adrianna ist für einen Moment verwirrt, beinahe enttäuscht, denn offenbar hat Akash nicht bemerkt, was in ihr vorgeht. Für ihn scheint sie immer noch das nette Mädchen zu sein, mit dem er sich gerne trifft, weil sie die gleichen Interessen haben. ‚Und wenn du ihn nicht verlieren willst, dann lass es dabei. Er ist schließlich dein bester Freund. Mehr nicht‘, ermahnt sie sich selbst.
Die Hände in die Hüften gestemmt setzt sie nun eine ernste Miene auf und entgegnet: »Ich war zuerst hier, Schätzchen. Also musst du mich begrüßen. Und deinen Tanz wirst du schon noch bekommen.«
‚Sie hat mich Schätzchen genannt‘, jubelt Siddharth innerlich. Sein Herz macht einen Sprung vor Freude. Stürmisch reißt er sie in seine Arme und dreht sich ausgelassen mit ihr. »Liebste Chandni. Bitte schimpf nicht mit mir. Ich will auch ganz artig sein. Bekomme ich dann noch meinen Tanz?«
Die Schmetterlinge in Adriannas Bauch schwirren in hellem Aufruhr umher. ‚Liebste Chandni‘, wiederholt sie in Gedanken. Sie lächelt dabei, bemerkt allerdings, wie sie rot wird. Deshalb befreit sie sich verlegen aus seinen Armen und entfernt sich einige Schritte von ihm. ‚Ich kann nicht denken, wenn er mir so nahe ist.\' Um sich zu beruhigen, atmet sie tief durch, dann gibt sie lächelnd zurück:
»Also gut. Ich zeige dir den Tanz einmal. Dann musst du genau das Gleiche machen wie ich«, und gleichzeitig beginnt sie, sich im Takt der Musik zu bewegen.
Siddharth beobachtet sie dabei fasziniert. ‚Sie ist wirklich gut. Ich kann die Musik sehen. Sie erzählt eine reizende Geschichte.\' Aufmerksam verfolgt er jeden ihrer Schritte, jede Körperbewegung, jede Geste und am Ende des Stücks klatscht er begeistert Beifall. »Das war großartig, Chandni. Willst du es mir beibringen?«
Unendlich erleichtert darüber, dass es ihm gefallen hat, nickt sie eifrig. Dann beginnen sie, die Choreographie einzustudieren. Adrianna ist beeindruckt, wie schnell sich Akash nicht nur die Schritte und Drehungen, sondern auch ihre Gesten und Mimik eingeprägt hat.
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Wieder sind drei Jahre vergangen ...
Adrianna erwacht langsam aus ihrem Traum. ‚Ach Akash. Könntest du doch in meiner Welt leben‘, dabei vergräbt sie seufzend das Gesicht in ihrem Kissen. Sie würde es unter keinen Umständen zugeben, aber sie hat sich tatsächlich verliebt. Wenn sie an ihren Freund denkt, lächelt sie verträumt vor sich hin, doch sie erzählt niemandem davon, selbst Carmen nicht.
Ihre Freundin weiß zwar über die Träume Bescheid und obwohl sie sonst alles mit ihr teilt, verrät sie ihr nichts von ihrer Liebe zu Akash. Denn das ist etwas, das sie ganz für sich allein behalten möchte. Jetzt gefriert ihr Lächeln, weil sich ihre innere Stimme der Vernunft meldet, wie so häufig in den letzten drei Jahren. ‚Das ist kindisch und sind nur Träumereien. Es wird Zeit, endlich aufzuwachen. Diese unsinnige Schwärmerei von einem Mann, der nur in deiner Fantasie existiert, bringt doch nichts.‘
Als sie hört, wie ihre Großmutter in der Küche hantiert, ignoriert sie die innere Stimme und steigt aus dem Bett. Heute fällt es ihr besonders schwer aufzustehen und so trottet sie verschlafen ins Badezimmer, um sich für den Tag frisch zu machen.
»Weshalb das alles eigentlich?« Diese Frage stellt sie ungehalten an ihr Spiegelbild. »Warum kann ich nicht einfach nur tanzen. Wieso zwingt mich Oma zu diesem blöden Studium. Ich werde mein ganzes Leben ganz sicher nichts anderes tun, als tanzen. Wozu soll ich also Zeit damit vergeuden, um in Hörsälen stumpfsinnige Vorträge über Computer und deren Sprache anzuhören.«
Seufzend tritt Adrianna unter die Dusche. Als sie im Bad fertig ist und sich ankleidet, lächelt sie sich aufmunternd im Spiegel an. »Wenn ich es schon nicht ändern kann, dann sollte ich wenigstens das Beste daraus machen.« Heute wird ihr erster Tag an der Uni sein, sie hat sich für ein IT-Studium entschlossen.
Carlotta hatte ihre Enkelin zu einer weiteren Ausbildung überredet. Adrianna sollte sich nicht darauf verlassen, ihren Unterhalt immer mit dem Tanz verdienen zu können. Mit einem weiteren Beruf, neben dem als Tänzerin, wäre sie in der Lage, ihr Leben zu meistern. Außerdem, so erklärte ihr die alte Dame eindringlich, würde es ihren Horizont erweitern und es könne nicht schaden, sich noch andere Kenntnisse anzueignen.
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