Autor: Medusa Mabuse

Kapitel 1 – Scheich Mohammed Omar

Adrianna rückt so weit wie möglich ab von dem Mann, der sie so unsanft in den Fond des Wagens gedrängt hat. Das Fahrzeug rast mit überhöhter Geschwindigkeit die Einfahrt hinunter, trotzdem denkt sie an Flucht. Vergeblich versucht sie jedoch, die Tür zu öffnen. Als das Auto am Ende der Sackgasse angelangt, sieht Adrianna ihre Cousine. Sie ist offenbar auf dem Weg zu ihr und Adrianna hämmert gegen die Scheibe, um sich bemerkbar zu machen. Der Mann neben ihr zieht sie unsanft an sich und presst ihr ein Tuch auf das Gesicht. Dann wird es dunkel um Adrianna.

Shalini ärgert sich über den Fahrer, der so fahrlässig aus der Sackgasse geprescht ist. Sie ist aber so sehr damit beschäftigt, ihren eigenen Wagen in der Spur zu halten, dass sie sich das Fahrzeug nicht näher ansieht.

Sie ist auf dem Weg zu Adrianna. Nach den letzten Wochen freut sie sich, ihre Cousine endlich wieder einmal alleine zu sprechen, ohne dass es dabei um irgendwelche Sicherheitsmaßnahmen geht. Als sie mit dem Auto auf den Eingang zurollt, fällt ihr zwar das offene Fenster über dem Eingangsportal auf, doch erst die offenstehende Eingangstür erweckt ihr Misstrauen. Da niemand in der Nähe zu sehen ist, beginnen sämtliche Alarmglocken bei ihr zu schrillen. Die geschulte FBI-Agentin in ihr wittert Gefahr. Sie zückt ihre Dienstwaffe, prüft, ob sie geladen und gesichert ist, und steckt noch eilig ihr Handy ein. Danach steigt sie lautlos aus dem Wagen und schleicht zur Tür.

Vorsichtig, mit der Waffe im Anschlag, tritt sie in die Eingangshalle. Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung. Ihre Sinne sind geschärft und sie achtet auf jedes Geräusch, stellt jedoch schnell fest, dass sich niemand hier aufhält. Das Fenster im Obergeschoss fällt ihr ein. Deshalb läuft sie leise die Treppe hinauf, wo sie auf halber Höhe den zerbrochenen Blumenkübel entdeckt. Sie sucht weiter nach Adrianna, doch auch hier oben fehlt jede Spur von ihr.

Ratlos zieht sie ihr Handy aus der Tasche. Es sieht ihrer Cousine nicht ähnlich, so überstürzt das Haus zu verlassen. Sie wählt ihre Nummer, als sie gleich darauf den ihr bekannten Klingelton aus dem Erdgeschoß hört. Auf dem Tisch in der Halle steht Adriannas Handtasche, ohne die sie niemals fortgehen würde, und daneben liegt ihr Telefon.

Shalini legt auf, um ihren Vater anzurufen. »Du musst kommen, sofort.« Sie erklärt ihm die Situation und sieht sich danach weiter um. Alle Zimmer sind leer, nur in der Küche fällt ihr die zerbrochene Tasse auf dem Boden auf. Anschließend läuft sie aus dem Haus, um auch die Garagen zu überprüfen. Sie ist bereits auf dem Weg zum Gästehaus, als ihr Vater mit Verstärkung anrückt, die das ganze Anwesen durchkämmt, doch die Suche nach Adrianna verläuft ergebnislos.

Zwei Kollegen bringen Kabir, den sie im Poolhaus gefunden haben, zum Haupthaus. Er wurde offensichtlich niedergeschlagen.

„Bringt ihn zum Arzt, und nehmt anschließend seine Aussage auf. Wo zum Teufel ist Raj? Hast du ihn noch nicht erreicht?«, faucht Rahul danach seine Tochter an.

Shalini, die genau weiß, dass er es nicht persönlich meint, entgegnet ruhig: »Nein. Da meldet sich nur die Mobilbox.«

»Mehra, Patil«, ruft er zwei von seinen Leuten zu. »Fahren Sie zum Haus meines Sohnes. Er soll umgehend ins Büro kommen.«

Während sich die Beamten sofort auf den Weg machen, läuft Rahul weiter aufgebracht vor der Eingangstür umher, bis er unvermittelt stehen bleibt.

»Oh Gott, Siddharth. Er sitzt gerade im Flieger nach London.« Er hat noch nicht ganz ausgesprochen, schon macht er auf dem Absatz kehrt. Er jagt auf den Wagen seiner Tochter zu, die sich beeilt, das Auto vor ihm zu erreichen. Nachdem sie eingestiegen ist, startet sie und rollt los, bevor ihr Vater die Tür geschlossen hat. Unterdessen ruft Rahul seine Frau an, um sie über den Stand der Dinge aufzuklären. Sonakshi hat bedauerlicherweise nichts zu berichten, da die Ermittlungen erst begonnen haben.

Shalini, die das Gespräch über die Freisprecheinrichtung verfolgt hat, wirft nun ein: »Wir sind gleich da, Mama. Ruf in London an. Siddharth muss so schnell wie möglich zurückkommen.«

Rahul schüttelt jedoch den Kopf. »Hältst du das für klug? Er wird uns an die Gurgel gehen. Du kannst dir denken, dass er uns die Schuld am Verschwinden Adriannas geben wird.«

»Mama, wir sind da.« Shalini parkt das Fahrzeug auf dem staubigen Parkplatz vor dem Backsteingebäude. Ihren Vater, der bereits die Treppen hinaufhastet, erreicht sie erst an der Tür und gemeinsam betreten sie die Halle.

Sonakshi kommt ihnen aufgeregt entgegen. »Shalini hat Recht. Was meinst du, was Sidhu anstellt, wenn er es aus den Medien erfährt? Wir müssen ihn informieren.«

Rahul kann sich Siddharths Reaktion lebhaft vorstellen und wendet sich mit flehendem Blick an seine Tochter. »Würdest du?«

»Entschuldigt mich«, erwidert sie knapp, ehe sie sich rasch entfernt.

In der Halle herrscht rege Betriebsamkeit. Sonst ist ihm das geschäftige Treiben willkommen. Heute jedoch ist es ihm zu viel. Dass seine Nichte spurlos verschwunden ist, setzt ihm sehr zu. »Lass uns in die Kantine gehen«, äußert Rahul niedergeschlagen und legt den Arm um seine Frau. »Hier ist es mir zu … Ach, keine Ahnung. Komm einfach mit.«

Kurz bevor Sonakshi die Tür zum Nebenraum öffnet, ruft Laura aufgeregt vom Eingang her nach ihnen. Sie kommt, einen Mann im Schlepptau, abgehetzt die Treppen heruntergelaufen. Schon von weitem erklärt sie: »Das ist mein Neffe Ronny. Ich weiß nicht, ob Adrianna ihn euch vorgestern vorgestellt hat.«

Völlig außer Atem erreicht sie Rahul und Sonakshi und schiebt sich an ihnen vorbei, um die Tür zur Kantine zu öffnen. Dort lässt sie sich auf dem nächstbesten Sofa nieder.

Sonakshi, Rahul sowie Ronny folgen ihr und nehmen ebenfalls Platz. Dann ergreift letzterer als erster das Wort.

»Nach der Party bei AJ ging ich noch mit Ammed … Scheich Mohammed Omar. Wir nannten ...«

»Das wissen wir«, unterbricht Rahul ihn ungeduldig. »AJ hat uns erzählt, dass sie auf Förmlichkeiten verzichtet haben, und ihn nur Ammed nannten. Erzählen Sie weiter.«

»Gut. Also Ammed und ich gingen noch einen trinken. Er hat, obwohl das eigentlich gegen seinen Glauben verstößt, ziemlich viel gebechert und ständig von AJ gesprochen. Nach einer Weile hat er, das nehme ich zumindest an, nur noch Selbstgespräche geführt. Hat ständig davon gefaselt, dass AJ so wunderschön sei. Dass sie die Perle seines Harems sein würde. Außerdem hat er gesagt, dass er sie zu seiner Hauptfrau machen wird, wenn sie ihm die nötigen Daten beschafft hat.«

Rahul hört sich Ronnys Bericht kopfschüttelnd an und fragt ihn dann fast vorwurfsvoll: »Warum haben Sie sich nicht schon gestern bei uns gemeldet?«

»Ammed war irgendwann so blau, dass er vom Stuhl gerutscht ist«, erklärt der daraufhin hastig. »Einer seiner Leibwächter hat ihn aufgehoben. Er hat gehört, was er so alles von sich gegeben hat. Ich nehme an, dass mich der Kerl deshalb niedergeschlagen hat. Als ich wieder zu mir kam, war Ammed weg und ich bin ins Hotel gefahren. Heute gegen Mittag hat mich Tante Laura angerufen und zum Essen eingeladen. Ich war bei ihr, als sie den Anruf erhielt, dass AJ verschwunden ist.«

Ronny hat kaum geendet, als Shalini weinend hereinkommt. Sie setzt sich zu ihrer Mutter und klagt schniefend: »Er hat mich angeschrien. Getobt hat er, wir würden unseren Job nicht verstehen. Außerdem hat er versprochen, uns den Hals zu brechen, wenn AJ nur ein Haar gekrümmt wird.«

Sonakshi legt tröstend den Arm um ihre Tochter, die nach einem letzten Schluchzer hinzufügt: »Turner wird anrufen, wenn Sidhu auf einer Maschine bestätigt ist. Dann wissen wir wenigstens, wann wir mit dem Schlimmsten rechnen müssen.«

Rahul eilt in die Halle, um die Abflüge der vergangenen zwei Tage checken zu lassen. Raj läuft ihm in dem Moment über den Weg, als er zurückgehen will.

»Ach, schau an. Der Herr Sohn. Hast du dich gut erholt? Ein paar freie Stunden genossen? Fühlst du dich gut, mein Junge?« Rahuls Stimme trieft vor Sarkasmus.

Raj fühlt sich unter dem Blick seines Vaters sichtlich unwohl. »Entschuldige, Dad. Aber es konnte doch keiner ahnen, dass so etwas passiert.«

Bevor sie sich zu den anderen setzen, lässt er sich von seinem Vater eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse geben.

»Ronny, was wissen Sie darüber, wie sich Adrianna und Siddharth kennengelernt haben?«, fragt Rahul, als er mit seinem Sohn wieder bei den anderen Platz genommen hat. Er mustert den Mann genau, denn wenn er weiß, wie tief die Verbindung der beiden ist, hat vermutlich auch Omar Kenntnis davon, was ihn sehr beunruhigt.

»Sie wurde für die Europa-Tour engagiert. Da ist es dann passiert«, antwortet dieser stockend, denn die Frage verwirrt ihn.

»Und Omar hat sie auch nichts anderes erzählt?«

»Warum sollte sie? AJ weiß, dass Ammed in sie verknallt war, oder vielleicht sogar noch ist. Sie würde ihm nie etwas erzählen, was sie nicht auch mir sagen würde.«

Rahul stützt die Ellenbogen auf die Knie und legt seinen Kopf in die Hände. Er denkt über die Traumverbindung zwischen Adrianna und Siddharth nach. »Hoffentlich funktioniert es noch«, murmelt er dabei mehr zu sich selbst.

Shalini, die sich nicht sicher ist, wovon ihr Vater spricht, blickt einen Moment verwirrt zu ihm, dann fällt ihr jedoch ein, woran er gerade denkt und ruft verzweifelt: »Es muss einfach! Das letzte Mal hat es doch auch geklappt.«

Sonakshi, ebenfalls unsicher, betrachtet ihre Tochter und ihrem Mann irritiert. Shalini schließt daraufhin kurz die Augen. Dabei legt sie den Kopf zur Seite, so, als würde sie schlafen.

Jetzt begreift auch Su, worüber die beiden reden. »Das war aber eine ganz andere Situation. Adrianna war damals nicht in Gefahr.«

»Aber sie haben ihren Spiegelsaal wieder!«, erwidert Shalini aufgeregt und springt auf. »Das muss doch etwas bedeuten!«

Laura, obwohl sie sich bisher nicht an den Gesprächen beteiligt, jedoch alles aufmerksam verfolgt hat, blickt nun neugierig in die Runde. »Wovon redet ihr denn da eigentlich?«

Rahul winkt jedoch nur ab. »Tut mir leid, Laura, aber das darf ich dir nicht sagen.«

Ronny macht sich gar nicht erst die Mühe, irgendeinen Sinn in dem Gespräch zu entdecken, wirft aber ein: »Also, ich denke nicht, dass AJ in Gefahr ist. Immerhin soll sie ja für Ammed etwas beschaffen. Solange er das nicht hat, wird er ihr nichts tun.«

Rahul mustert Lauras Neffen daraufhin aufmerksam. »Sie arbeiten im Pentagon?«

Ronny nickt nur, weshalb Rahul eifrig weiterfragt: »Welche Stufe?«

»Stufe«, wiederholt der Mann verächtlich. »Ich bin Systemanalytiker. Denken Sie, eine Geheimhaltungsstufe würde mir hinderlich sein? Ich kenne alle Daten und komme an alle Daten heran.«

»Sie wissen, wer Adanin ist?«

Ronnys grimmiges Gesicht scheint das zunächst zu bestätigen, seine Antwort beseitigt diese Annahme jedoch. »Nein. Und wenn wir ihn jemals zu fassen bekommen, dann würde ich gerne ein paar Minuten mit ihm alleine verbringen. Dieser Kerl hält uns seit Jahren auf Trab, aber er entwischt uns immer wieder.«

Shalini kann ein Kichern nicht unterdrücken, was ihr einen Rempler von Raj einbringt.

Rahul wiederum schnalzt ungeduldig mit der Zunge, bevor er fortfährt. »Adanin ist kein Mann, sondern eine Frau. Adrianna ist Adanin.«

Ronny ist derart perplex, dass er mit offenem Mund zurückstarrt. Aus diesem Grund wendet sich Rahul an Laura. »Ich bewundere deine Loyalität, Laura. Du hast es ihm nie erzählt?« Diese hebt nur die Hände und senkt lächelnd den Kopf.

Lauras Neffe hat seine Fassung schnell wieder gefunden und wirft nun ein: »Aber Ammed weiß es vielleicht. Wie sonst käme er auf die Idee, dass ihm AJ Daten beschaffen könne? Wir haben alle das gleiche Studium absolviert.«

Rahul hat sich bereits ähnliche Gedanken gemacht. Er fährt sich müde über den Nacken, ehe er ihm beipflichtet. »Ich befürchte, dass Sie Recht haben.«

Währenddessen streckt ein Mann den Kopf durch die Tür. Er winkt Shalini zu, die ihn fragend ansieht. »Rohit, was gibt es?«

»Turner auf der Drei«, antwortet er und lässt die Tür wieder hinter sich zufallen, woraufhin Shalini eilig hinter ihm herläuft.

»Shalini!«, ruft Rahul ihr hitzig nach. »Siddharth darf auf keinen Fall schlafen. Es muss irgendjemand dafür sorgen, dass er um Himmels willen nicht schläft, bevor wir mit ihm gesprochen haben.«

Seine Tochter nickt zögernd, bevor sie nach nebenan verschwindet. Sie ist froh, dass sie nur die Botschaft überbringen muss, bedauert aber schon jetzt denjenigen, der diese Aufgabe übernehmen wird. Wer auch immer Siddharth auf dem Rückflug begleitet, wird alle Hände voll damit zu tun haben, ihn am Schlafen zu hindern. So wie er sie am Telefon angeschrien hatte, ist davon auszugehen, dass er nichts unversucht lassen wird, um im Traum zu Adrianna zu gelangen.

Zur gleichen Zeit werden Siddharth, Karan sowie Zarina am Flughafen Heathrow von einem Beamten begleitet. Shalini hat dafür gesorgt, dass sie in die nächste Maschine nach Mumbai gebracht werden. Kurz vor der Fluggastbrücke kommt ihnen ein zweiter Uniformierter entgegen, der Karan ein Telefon reicht.

»Ja? Verma hier. Mit wem spreche ich?«

»Hi, Karan, hier ist Shalini, AJs Cousine. Hör bitte nur zu. Sag nichts. Sidhu soll das nicht hören. Du musst unbedingt dafür sorgen, dass er wach bleibt. Er darf unter gar keinen Umständen einschlafen und träumen.«

»Sonst noch was?«

»Viel Glück. Ich möchte nicht mit dir tauschen.«

»Danke für dein Mitgefühl. Bye«, verabschiedet er sich zynisch. Während er stumme Stoßgebete für ausreichend Kaffee gen Himmel schickt, gibt er dem Beamten das Telefon zurück. Er würde sich am liebsten selbst dafür ohrfeigen, dass er sich angeboten hat, den Freund zu begleiten.

Shalini will gerade wieder zu den anderen in die Kantine gehen, als sie von dem Kollegen zurückgerufen wird, der sie kurz zuvor schon über Turners Anruf informiert hat.

»Mueller will eine Konferenzschaltung in zehn Minuten.«

Verwundert runzelt sie die Stirn, nickt ihm dann aber zu, bevor sie nach nebenan eilt. »Dad, Mom, der Obermotz will eine Schaltung in zehn Minuten.«

»Weshalb mischt sich die Zentrale ein? Und warum geht das gleich bis zur obersten Führung?« Laura klingt ungehalten, denn sie vermutet, dass man sie auffordern wird, die Ermittlungen einzustellen. Zum einen, weil die Aktion nicht genehmigt ist, zum anderen, weil die ganze Sache in keinster Weise die Sicherheit des Landes betrifft.

Rahul zuckt daraufhin ahnungslos mit den Schultern, während er sich erhebt. »Laura, darf ich dich um einen Gefallen bitten? Würdest du an dem Gespräch teilnehmen?«

»Nur zu gerne«, antwortet sie erfreut. »Der wird Augen machen. Er dachte doch tatsächlich, er könne mich zum alten Eisen stecken.«

 

Unterdessen kommt Adrianna langsam zu sich und schlagartig fällt ihr ein, was passiert war. Jetzt sitzt sie in einem Sessel oder etwas Ähnlichem. Genau kann sie es nicht erkennen, denn sie sieht nicht viel. Nur ein Schlitz in einem, ‚Oh Gott, ich trage eine Burka’, schießt es ihr durch den Kopf. Gleichzeitig rasen einzelne Gedanken durch ihren Geist. ‚Überfall, Autofahrt, Chloroform, Ammed, Harem, Siddharth.' Der Gedanke an ihren Mann lässt sie ruhiger werden und macht es ihr leichter, sich zu konzentrieren.

‚Wenn ich eine Burka trage, dann - Ammed. Er hat sich auf der Party so seltsam verhalten. Steckt er dahinter? Er wird doch nicht immer noch in mich verliebt sein.’ Vorsichtig bewegt Adrianna den Kopf. ‚Ich bin in einem Flugzeug. Sieht aus wie eine Privatmaschine.' Ihr Gehirn arbeitet auf Hochtouren. ‚Denk nach’, fordert sie sich selbst auf. ‚Was hat er vor? Er muss wahnsinnig sein, wenn er annimmt, er könne mich einfach so entführen. Er weiß doch, für wen meine Familie arbeitet.‘

Sie spürt, wie sich Panik in ihr breitmacht. Wenn er tatsächlich so verrückt ist, sie in sein Land zu verschleppen, könnte es schwierig werden zu fliehen.

»Ammed? Bist du da?«, fragt sie nun vorsichtig. Sie versucht dabei, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, um ihm nicht zu zeigen, wie ängstlich sie wirklich ist.

»Adrianna, du bist endlich wach.« Er hört sich freundlich an, worüber sie erleichtert ist.

»Sind wir alleine? Ich bin die Burka nicht gewöhnt und würde sie gerne ablegen. Mir fällt das Atmen schwer.« Adrianna atmet befreit auf, nachdem sie das Kleidungsstück abgelegt hat. Obwohl es ihr schwer fällt, schafft sie es, Ammed, der ihr gegenübersitzt, anzulächeln, was ihn sehr zu freuen scheint.

»Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass du dich wie eine Furie auf mich stürzen würdest, sobald du aufwachst.«

Adrianna lehnt sich bequem zurück. Fast in Zeitlupe schlägt sie die Beine übereinander. Sie versucht Zeit zu gewinnen, um zu überlegen, wie sie sich weiterhin verhalten soll. »Warum hätte ich das tun sollen?« Ohne ihn aus den Augen zu lassen, verschränkt sie dabei die Arme.

»Nun, ich habe dich immerhin entführt.«

Irgendetwas liegt in Ammeds Blick, das Adrianna verwirrt, denn er macht nicht den Eindruck, als wäre er glücklich mit der Situation. Er wirkt vielmehr sehr besorgt, was zwar unter diesen Umständen durchaus verständlich ist, doch weil sie ihn nicht unnötig herausfordern möchte, lacht sie spitz. »Befreit, mein Lieber. Du hast mich befreit.«

Ihr wird übel bei dieser Lüge, deshalb denkt sie angestrengt an etwas Angenehmes und lächelt Ammed weiter an. Jetzt fällt ihr das allerdings nicht sonderlich schwer, denn sein überraschter Gesichtsausdruck ist mehr als komisch.

»Aber dein Mann und du. Ihr habt euch so verliebt angesehen.«

Immer noch belustigt bricht sie nun in glockenhelles Gelächter aus. »Ach, Ammed, wir sind Schauspieler. Sich verliebt in die Augen zu sehen, gehört zu unserem Job.« Sie spürt wieder die aufkommende Übelkeit, weshalb sie hastig weiterspricht. »Bitte, Ammed. Das Chloroform hat mir, glaube ich, nicht gut getan. Mir wird ständig übel, außerdem habe ich ganz entsetzlichen Durst.«

Omar erhebt sich daraufhin und bringt Adrianna ein Glas Wasser, das sie gierig in einem Zug leert.

»Sind wir noch lange unterwegs? Ich würde gerne etwas schlafen. Ich fühle mich nicht sehr wohl.«

»Mach es dir bequem. Ich werde dich rechtzeitig wecken«, sagt er freundlich, während er eine Hand an ihre Wange legt.

Adrianna lässt die Berührung angewidert zu, dennoch lächelt sie, als sie die Augen schließt. ‚Ich will von meinem Mann träumen. Bitte, Siddharth, ich will zu dir, mi corazón.’ Nach einer Weile schläft sie tatsächlich ein.

 

Adrianna sieht sich um und dreht sich übermütig im Kreis. »Ich bin wieder hier!«, ruft sie ausgelassen vor lauter Freude, wieder im Spiegelsaal zu sein, als Siddharth unvermittelt vor ihr steht.

»Hab keine Angst, Liebling. Ich hole dich nach Hause.«

 

»Verdammt, Sidhu, mach die Tür auf! So lange kannst du gar nicht auf die Toilette müssen. Komm da raus oder ich schlage die verdammte Tür ein!«

Karan hämmert ohne Unterlass gegen die Bordtoilette. Die vorwurfsvollen Blicke der Mitreisenden ignoriert er. Er weiß, dass sein Freund die Kabine nur benutzt, um ungestört schlafen zu können. Bisher haben er und Zarina das verhindert, doch je mehr Zeit verstreicht, desto schwieriger wird es für sie. Noch einmal klopft er an die Tür und endlich taumelt Siddharth in den Gang.

»Karan, gönn mir fünf Minuten. Ich bin am Ende. Bitte, nur fünf Minuten Schlaf.«

Er sieht wirklich erbärmlich aus’, überlegt dieser, während er den Arm um ihn legt, um ihn zurück an ihre Plätze zu führen. »Ich sag dir was. Ich lasse dich schlafen. Sobald du bei Adrianna bist, hast du eine Minute, keine Sekunde mehr.«

Zarina blickt auf, als die beiden zurückkommen. Die letzten Worte Karans hat sie gehört, deshalb protestiert sie dagegen. »Ist das dein Ernst? Ich nahm an, die Anweisungen waren klar und er dürfe unter keinen Umständen träumen?«

Karan beobachtet Siddharth, als dieser sich hinlegt und erwidert leichthin. »Er tut es ja doch. Was soll in einer Minute schon passieren?«

»Wie willst du wissen, wann er träumt?«

»Warte es ab, wir werden es sehen.« Tatsächlich ändert sich Siddharths Gesichtsausdruck. Ein Strahlen erhellt sein Gesicht, während Karan bereits beginnt, die Sekunden zu zählen.

 

Adrianna dreht sich um. ‚Aber er war doch gerade da. Wo ist er denn hin?’ Als sie darüber nachdenkt, setzt sie sich vor einem der Spiegel auf den Boden und genauso schnell, wie Siddharth Sekunden vorher verschwunden ist, sitzt er wieder neben ihr. Sie wirft sich erleichtert in seine Arme, doch er hält sie auf Abstand.

»Wir haben keine Zeit. Erzähl mir, was du kannst.«

Adrianna berichtet ihm rasch von der Entführung, und dass sie bei Ammed im Flugzeug wieder aufgewacht sei. Auch davon, dass sie Omar vorgaukelt, sie wäre froh darüber, bei ihm zu sein. Als sie fertig ist, umarmt sie ihn und presst ihre Lippen auf seine. Er erwidert den Kuss leidenschaftlich. Obwohl Adrianna spürt, wie sich Siddharth wieder von ihr entfernt, ist sie dennoch glücklich über die wenigen Sekunden und darüber, dass die Verbindung immer noch funktioniert.

 

Rahul blickt auf die Uhr. »Wir sollten gehen. Er wartet nicht gerne.« Bis auf Ronny erheben sich alle und marschieren in den Konferenzraum am Ende der Halle. Noch ehe alle Platz genommen haben, steht die Leitung.

Ohne Umschweife kommt Mueller gleich zur Sache. »Herrschaften, Sie werden die Aktivitäten in Bezug auf Scheich Mohammed Omar unverzüglich einstellen.«

Shalini, aufgebracht über diese Anweisung, schnappt hörbar nach Luft und schlägt auf den Tisch. »Das kommt überhaupt nicht in Frage! Der Mistkerl hat meine Cousine gekidnappt.«

Mueller zuckt daraufhin jedoch nur abwertend mit der Schulter. »Kollateralschaden«, wirft er emotionslos ein. »Wir verfolgen mit Scheich Omar andere Ziele.«

Nun meldet sich Laura zu Wort. »Robert, das kann nicht dein Ernst sein. Vielleicht können wir eine bessere Lösung finden. Was wollt ihr von Omar?«

Obwohl er zweifellos überrascht ist, Laura zu sehen, sagt er nichts dazu, sondern schüttelt ungehalten den Kopf. »Wir wollen etwas über seine Kontakte herausbekommen. Er übt unglaublich viel Einfluss in vielerlei Bereichen aus. Außerdem gibt es Hinweise, die ihn mit islamistischen Terrorzellen in Verbindung bringen, welche jedoch noch nicht bestätigt sind.«

Während Shalini weiterhin mit Mueller debattiert, zieht Rahul Laura zur Seite. »Hör gut zu und stell keine Fragen. Ich werde es dir später genauer erklären. Adrianna und Siddharth haben eine besondere Beziehung zueinander. Sie träumen gemeinsam. Sie können sich in ihren Träumen wirklich verständigen.«

Laura nickt daraufhin und wendet sich erneut dem Bildschirm zu. »Robert.« Sie unterbricht zwar dadurch Shalini, doch darauf kann sie keine Rücksicht nehmen, wenn man in Washington von Adrianna bereits als Kollateralschaden spricht. »Frau Raichand ist nicht zufällig bei Omar. Wir haben das eingefädelt. Sie verfügt über ein ... sagen wir spezielles Talent. Es könnte also durchaus sein, dass wir durch sie an die nötigen Informationen herankommen.«

Mueller lehnt sich daraufhin in seinem Sessel zurück und schlägt ungeduldig mit einem Stift auf die Schreibtischplatte. »Kannst du dich etwas präziser ausdrücken?«

»Was denkst du?« Laura lacht verkniffen, denn sie weiß, dass sie ihn am Haken hat.

»Na schön. Ihr habt achtundvierzig Stunden. Danach können wir auf Frau Raichand keine Rücksicht mehr nehmen.« Damit beendet er das Gespräch. Der Monitor zeigt nur noch ein Testbild.

Sonakshi schlägt auf den Tisch. »Arrogantes A ...«

»Mama!«, unterbricht Raj seine Mutter jedoch entsetzt. So außer sich hat er sie noch nie erlebt.

»Ist doch wahr«, erwidert sie ungehalten. Kopfschüttelnd geht sie zur Tür, bleibt aber dort stehen und fragt in die Runde: »Ich brauche einen Kaffee. Noch jemand?«

Es erheben sich zwar alle, um den Raum zu verlassen, aber Shalini gähnt verstohlen. »Leute, ich kann nicht mehr. Es ist spät. Heute Abend können wir ohnehin nichts mehr machen. Ich fahre jetzt nach Hause und versuche ein paar Stunden zu schlafen.«

Sonakshi stimmt ihrer Tochter zu. »Wir sollten uns alle etwas erholen. Vermutlich wird es morgen nicht weniger anstrengend. Wir treffen uns um acht wieder.«

 

~~~~~

 

Adrianna erwacht langsam und sieht sich um. Sie liegt in einem riesigen Bett. Sonst kann sie nichts sehen, denn rings um sie herum hängen Tücher, die jede Sicht nach draußen verhindern. Selbst das Tageslicht scheint nur schwach hindurch.

Sie richtet sich auf und späht vorsichtig durch den Vorhang, doch sie scheint alleine zu sein. Argwöhnisch klettert sie nun von der Schlafstatt, wobei sie ihre Blicke durch den Raum schweifen lässt. ‚Ich bin wohl bei Omar. So habe ich mir sein Zuhause immer vorgestellt.'

Bevor sie sich jedoch weiter umsehen kann, öffnet sich die Tür. Ein verschleiertes Mädchen betritt den Raum. Sie trägt ein Tablett, das sie auf einem großen Kissen abstellt, welches vor dem riesigen Bett liegt. Danach eilt sie lautlos wieder hinaus.

Die kleine silberne Kanne, die leise zischend auf dem Servierbrett steht, enthält Kaffee, was Adriannas Annahme bestätigt, dass sie hier bei Ammed ist. Er kennt ihre Obsession für Coffein und, nachdem sie sich bedient hat, blickt sie sich weiter um.

Außer dem monströsen Bett gibt es nicht viel Mobiliar in dem Zimmer. Ein zierlicher Tisch, beladen mit allerlei Töpfchen und Tiegeln, steht zwischen zwei Fenstern, die jedoch keine freie Sicht nach draußen bieten, sondern durch ein Spalier verdeckt werden. Außerdem, und das ist das einzig Interessante in diesem Raum, nimmt ein großes Regal, gefüllt mit Büchern, die Wand neben der Tür ein.

Da es sonst nichts gibt, das Adriannas Aufmerksamkeit erregt, vor allem auch, um sich selbst zu beschäftigen, sucht sie sich ein Buch heraus. Sie macht es sich auf dem Bett bequem und blättert durch die Seiten, während sie ihren Kaffee trinkt.

Einige Zeit später klopft es energisch an der Tür. Adrianna strafft die Schultern. ‚Das ist bestimmt Ammed’, überlegt sie, ruft aber freundlich »Bitte!«

Tatsächlich öffnet Mohammed die Tür und eilt lächelnd auf Adrianna zu. »AJ, schön dich zu sehen. Geht es dir heute besser?«

Adrianna gibt sich freundlich, runzelt aber die Stirn. »Heute? Wie lange habe ich denn geschlafen?«

»Fühlst du dich wohl? Fehlt es dir an etwas?«, fragt er sie fröhlich, während er ihre Hand tätschelt.

Diese Berührung erzeugt erneut eine Welle der Übelkeit. Adrianna muss sich zwingen, ihre Hand ruhig in seiner liegen zu lassen und antwortet, ohne sich etwas anmerken zu lassen. »Für meinen westlichen Geschmack ist das hier etwas zu spartanisch eingerichtet. Außerdem fehlt mir meine Musik. Sonst finde ich es ganz in Ordnung.« Dann legt sie ihre andere Hand auf seine und sieht ihn schmeichelnd an. »Ammed, ich habe entsetzlichen Hunger.«

Omar blickt ihr verlegen entgegen, als er sich eilig erhebt. »Verzeih mir, AJ. Ich werde dir sofort etwas bringen lassen. Jetzt entschuldige mich, ich habe noch zu arbeiten.«

Während Adrianna sich noch Gedanken über Omar und sein äußerst merkwürdiges Verhalten macht, bringt ein verschleiertes Mädchen ein Tablett, beladen mit Obst, Falafel mit Pita-Brot und frischem Kaffee.

Adrianna hat es nicht eilig mit dem Essen. Sie blättert unterdessen weiter durch das Buch, um die Zeit totzuschlagen, doch auch nachdem sie ihr Mahl längst beendet hat, tauchen weder das Mädchen noch Omar auf. Aus Langeweile, und weil sie neugierig ist, geht sie auf die Zimmertür zu. ‚Wollen wir doch einmal sehen, ob ich Gast oder Gefangene bin.'

Sie versucht die Tür zu öffnen und ist hoch erfreut, als diese tatsächlich aufschwingt. Ihre Freude währt allerdings nicht lange, denn vor der Tür steht ein Wächter, der ihr den Weg versperrt. Adrianna richtet sich zu ihrer vollen Größe auf, trotzdem überragt der Mann sie um mehr als einen Kopf. Dennoch strafft sie die Schultern und reckt das Kinn vor.

Mit erhobener Braue betrachtet sie den Mann einschüchternd, doch der rührt sich nicht vom Fleck. ‚Verflucht. Ich hatte gehofft, dass er mich vorbeilässt’, schimpft sie im Stillen, zuckt dabei jedoch nicht mit der Wimper, sondern fordert den Mann mit fester Stimme auf: »Bringe mich zu Omar.« Sie bemerkt, dass sie ihn dadurch verwirrt, allerdings bleibt er unbeweglich stehen, weshalb sie noch einmal mit Nachdruck wiederholt: »Ich sagte, führe mich zu deinem Herrn. Jetzt gleich!«

Adrianna hat fast Mitleid mit ihrer Wache. ‚Der Arme. Er weiß gar nicht, wie er sich verhalten soll. Soll er mich vor sich herschieben, oder mich hinter sich hergehen lassen.’ Sie lächelt ihn deshalb freundlich an und bedeutet ihm, dass er vorangehen soll.

Es hat den Anschein, als wäre er erleichtert darüber, dass ihm eine Entscheidung abgenommen wurde. Endlich setzt er sich in Bewegung, um vor Adrianna herzulaufen. Seine Schritte dröhnen laut durch den breiten Gang, verlieren sich aber unvermittelt, als sie am Ende eine Halle betreten, die der Mittelpunkt des Gebäudes zu sein scheint, denn hier münden noch zwei weitere Flure.

Eine ausladende Treppe führt sie eine Etage tiefer. Der Weg, den der Hüne vor ihr nun einschlägt, führt jedoch nicht in einen Flur, sondern vielmehr in einen Säulengang, der zu ihrer Rechten einen herrlichen Blick auf einen üppig bepflanzten Garten bietet.

Adrianna hätte sich hier gerne genauer umgesehen, denn die Fülle an Farben und Düften legt sich wie Balsam auf ihre angespannten Nerven. Dafür hat sie aber keine Zeit, denn der Mann hat bereits eine Tür geöffnet, vor der er nun abwartend stehen bleibt. Sie verdrängt die Unsicherheit, die sie verspürt, während sie durch die Tür geht, und spricht sich selbst Mut zu. ‚Kopf hoch. Lass dich nicht einschüchtern. Offensichtlich will er ja etwas von dir.‘

Omar ist mehr als erstaunt, als Adrianna unangekündigt in sein Arbeitszimmer tritt. »Nanu, AJ? Wer? ... Was? ...«, stottert er, doch sie unterbricht ihn.

»Ammed, es ist lieb von dir, dass du mich bewachen lässt. Aber ich denke, in deinem Palast kann mir nichts passieren, oder?«

Sie hält den Blick auf ihn gerichtet, während sie langsam weiter in den Raum hineingeht, doch er gibt ihr darauf keine Antwort, starrt sie nur weiterhin an. Adrianna schenkt ihm trotzdem ein Lächeln und sieht sich neugierig um.

»Von hier aus regierst du also?«, plaudert sie leichthin. Sie schlendert auf seinen riesigen Schreibtisch zu und lässt ihre Finger darüber gleiten, geht aber weiter, um aus den Fenstern zu sehen, die hinter seinem Rücken einen trostlosen Blick auf nichts als Sand und Staub bieten. Deprimiert von dem Anblick wendet sie sich ab, um sich auf eines der vier einladenden Sofas zu setzen.

Sie lächelt ihn freundlich an. Zu spät fällt ihr auf, dass sie besser einen Stuhl gewählt hätte, denn auf dem Sofa neben ihr ist noch Platz, den nun Omar einnimmt.

»Wie ich sehe, fühlst du dich wohl.« Er klingt etwas nervös, versucht aber, sich das nicht anmerken zu lassen, und greift wieder nach ihrer Hand. Dabei lächelt er zwar, doch es ist mehr ein arglistiges Grinsen.

Adrianna würde ihm am liebsten ins Gesicht schlagen, so sehr verabscheut sie seine Berührung, dennoch hält sie ihr Temperament in Zaum. Sie entzieht ihm allerdings langsam ihre Hand und verschränkt die Arme.

Mit zusammengekniffenen Augen blickt sie ihn an. »Ammed, beleidige bitte nicht meine Intelligenz. Ich bin doch nicht hier, um mich wohlzufühlen. Ich dachte, wir sind Freunde. Was möchtest du?« Adrianna sieht für einen kurzen Moment ein gefährliches Aufblitzen in Omars Blick, bevor er sich erhebt und zu seinem Schreibtisch geht.

Dort dreht er sich zu ihr, um sie abschätzend zu mustern. »AJ, du hast dich in der Tat nicht verändert. Du kommst immer noch gleich zur Sache, nicht wahr?«

Während er um den Tisch herumgeht, lässt er sich Zeit, wartet fast auf eine Erwiderung Adriannas. Die bleibt sie ihm allerdings schuldig. Stattdessen sitzt sie äußerlich gelassen auf dem Sofa und betrachtet ihn herablassend.

»Was ich von dir möchte?«, fährt er nun pikiert fort. »Als Erstes verlange ich, dass du dein Talent in meine Dienste stellst.« Bevor er weiterspricht, setzt er sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch, blickt sie durchdringend an und schleudert ihr entgegen: »Adanin!«

Adrianna reckt den Kopf stolz nach oben, verdreht allerdings gelangweilt die Augen. »Und weiter?« Sie hofft, dass ihre Stimme fest genug klingt, sodass er nicht bemerkt, wie bestürzt sie darüber ist, dass er ihre Identität kennt, doch er runzelt die Stirn.

»Überrascht es dich denn gar nicht, dass ich von deinen Aktivitäten weiß?«

Sie steht daraufhin auf und nähert sich langsam seinem Schreibtisch. »Ammed, bitte. Ich bin durchaus in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen. Du bringst mich hierher und verlangst meine Dienste, also, was weiter?« Sie stützt die Hände auf den Tisch und sieht ihn streng an. »Strapaziere nicht meine Geduld, Ammed. Ich warte!«

Omar erhebt sich nun zornig. Er kommt drohend auf sie zu, denn sie hat die Stimme gegen ihn erhoben, was niemandem, vor allem keiner Frau zusteht.

»Hör gut zu«, erwidert Adrianna mit einem gefährlichen Unterton, »Ich werde mich nicht wiederholen. Versuche nicht mich einzuschüchtern, indem du mir drohst, denn ich habe so etwas bereits hinter mir. Ich war schon in der Hölle. Es hat mir dort nicht gefallen, doch nun bin ich zurück. Du kannst mich zum Freund haben oder zum Feind.« Grimmig blickt sie ihn an. »Entscheide! Jetzt!«

Omar bleibt erschrocken stehen. »Ich habe mich getäuscht, AJ. Du hast dich sehr verändert.«

Adrianna bemerkt Omars Zweifel, ist erleichtert, dass er ihre Charade nicht durchschaut, doch sie lässt ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. »Ammed. Ich warte. Freund oder Feind?« Ihre Stimme klingt nun nicht mehr so freundlich, weshalb Mohammed einen Schritt zurückweicht.

Er schluckt und grinst verlegen. »AJ, ich ... Also es ... Ich möchte dich nur um einen Gefallen bitten.«

Sie vermutet, dass Omar versucht, Zeit zu schinden, um seine Fassung wieder zu gewinnen. Ungeduldig fordert sie ihn auf: »Komm zur Sache, Ammed. Was willst du?« Adrianna bemerkt die Schweißperlen auf seiner Stirn. Er zögert noch einen Augenblick, dann atmet er hörbar aus.

»Ich möchte, dass du mir einige Daten beschaffst.«

Sie ahnt bereits, worauf er hinauswill, doch sie blickt ihn ungehalten an. »Geht es etwas genauer?«

Omar starrt verständnislos zurück, denn Adrianna scheint nicht im Geringsten überrascht. »Ich will, dass du mir die Abschusscodes dieser Länder besorgst«, fordert er sie stockend auf. Er geht dabei wieder um den Schreibtisch herum und zieht ein Dokument aus der Schublade, das er ihr über die blank polierte Platte zuschiebt.

Adrianna ist zwar entsetzt, trotzdem setzt sie eine unbeteiligte Miene auf. Sie schüttelt herablassend den Kopf, während sie das Papier an sich nimmt, und liest sich die Liste aufmerksam durch, um sich so viel wie möglich einzuprägen, bevor sie das Blatt gelangweilt sinken lässt. »Was springt für mich dabei heraus?«

Über diese Reaktion ist er mehr als erstaunt, aber da sie nun selbst die Sprache auf ihre Belohnung bringt, antwortet er mit geschürzten Lippen: »Ich würde dich zu meiner Hauptfrau machen.«

»Mich? Zu deiner Hauptfrau?«, lacht Adrianna belustigt auf. »Ich bitte dich, dieses Thema hatten wir doch schon. Ammed, du bist wie ein Bruder für mich. Selbst wenn zwischen uns etwas wäre, ich bin keine Frau, die bereit ist zu teilen. Das ist also keine Option.«

Sie bemerkt seinen Blick, der nun fast bestürzt auf ihr ruht, doch seine Augen sind beinahe sorgenvoll geweitet. Das irritiert Adrianna, deshalb wiegt sie ihren Kopf leicht hin und her und ergänzt: »Ich werde darüber nachdenken, ziehe mich aber für heute zurück und teile dir morgen meine Bedingung mit.«

Adrianna hält weiter die Augen auf ihn gerichtet. Er scheint fast ein wenig erleichtert, seine Hände umklammern jedoch weiterhin nervös die Armlehnen seines Sessels. Misstrauisch fragt sie deshalb: »Was willst du eigentlich mit den Codes?«

»Ich muss sie für jemanden besorgen«, antwortet er schlicht, weicht allerdings ihrem Blick aus.

»Ich verstehe«, gibt sie gleichgültig zurück, doch sie ahnt, dass etwas nicht in Ordnung ist, denn Ammed sitzt nach wie vor aufs Äußerste angespannt hinter seinem Schreibtisch. Er macht sich offensichtlich Sorgen. Feine Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn, die er mit einer fahrigen Bewegung fortwischt, dabei grinst er Adrianna schief an.

Sie nickt ihm freundlich zu, bevor sie zur Tür geht, doch über die Schulter ruft sie ihm zu: »Ich bin deine Freundin, Ammed, wenn du das willst.«

Als sie den Raum verlässt, blickt Omar ihr nachdenklich hinterher.

So schnell es geht, flieht Adrianna in ihr Zimmer. Dort lehnt sie sich gegen die Tür und atmet tief durch. ‚Ich muss wahnsinnig sein. Ich bin doch nicht Mata Hari.' Aufgebracht wandert sie umher. ‚Ich kann ihm auf keinen Fall diese Codes beschaffen. Auch wenn er sie nicht für seine eigenen Zwecke will. Wer also steckt dahinter?

Den Blick in sich gekehrt setzt sie sich auf das Bett und grübelt darüber nach. ‚Kommt das Programm, welches ich für Ronny prüfen sollte, am Ende von ihm? Aber das ist doch Unsinn. Er hätte ahnen müssen, dass Ronny es nicht einfach ausführen würde.‘

Obwohl sie immer noch sehr aufgewühlt ist, lässt sie sich nach hinten fallen und versucht sich zu beruhigen. ‚Ich muss nach Hause. Lass mich träumen. Vielleicht weiß Siddharth etwas, das mir hier weiterhelfen kann’, aber es dauert Stunden, ehe sie endlich in den ersehnten Schlaf sinkt.

 

~~~~~

 

Shalini trifft am nächsten Morgen als Erste im Büro ein. Die Nacht war ereignislos, deshalb beschließt sie, erst einmal frischen Kaffee aufzusetzen.

Raj murmelt ihr ein verschlafenes »Guten Morgen« entgegen, als sie in die Kantine kommt.

»Seit wann bist du denn hier? Oder hast du hier geschlafen?«, fragt sie verblüfft.

Er fährt sich jedoch müde über das Gesicht und schüttelt den Kopf. »Nein, ich bin seit ungefähr einer Stunde hier.«

Während Shalini Tassen und Löffel zusammensucht, schwingt die Tür auf und Laura sowie Sonakshi treten ein. »Kaffee ist fast fertig. Guten Morgen, Mama, Laura«, begrüßt sie die beiden. Sie belädt gerade ein Tablett, als die Tür erneut aufgedrückt wird und Rahul den Kopf hereinstreckt.

»Meeting, jetzt sofort«, äußert er kurzangebunden und ist gleich darauf wieder verschwunden, weshalb ihm die Vier in den Konferenzraum folgen.

Dort wartet Rahul schon ungeduldig. »Die Privatmaschine von Omar ist heute Nacht gelandet. Adrianna ist bei ihm.« Währenddessen trommelt er nervös mit den Fingern auf der Armlehne herum. »Ich habe einige Leute, die sich dort unauffällig umsehen werden. Wir müssen auf Nachricht von ihnen warten.«

Shalini lässt deshalb den Kopf auf die Tischplatte sinken und beklagt sich lautstark: »Dad! Das hättest du uns drüben auch sagen können. Ich brauche Kaffee, sonst springt mein Kopf nicht an.«

Raj, der ebenso gierig auf eine Tasse dieses köstlichen Getränks ist, zieht sie hoch und schleift sie zur Tür, gleichzeitig steht Sonakshi ebenfalls auf, tadelt die beiden aber: »Kinder, bitte!« Sie öffnet die Tür und geht kopfschüttelnd an ihnen vorbei. Laura, Rahul und Raj folgen ihr. Auch Shalini trottet seufzend hinterher. Bevor sie die Kantinentür erreicht, wird sie allerdings von Rohit aufgehalten.

»Herr Raichand ist vor fünfzehn Minuten gelandet.«

Sie wird bleich, denn, so wie Sidhu sie Stunden zuvor angeschrien hat, fürchtet sie sich vor seinem Zorn. Trotzdem bedankt sie sich bei dem Kollegen, bevor sie hinter ihrer Familie hereilt. »Er wird gleich hier aufschlagen. Ich will ihm aber auf keinen Fall alleine begegnen«, teilt sie ihnen atemlos mit. Noch während sie alle wieder Platz in der Kantine nehmen, schwingt die Tür erneut auf.

Siddharth stürmt herein und baut sich vor ihnen auf. »Sie ist in einem Flugzeug bei Omar. Adrianna lässt ihn glauben, dass sie froh darüber ist. Sie hat ihn überzeugt, dass unsere Ehe nur Fassade ist.«

Rahul legt mitfühlend eine Hand auf Siddharths Schulter. Er wollte zwar, dass Siddharth nicht träumt, dachte sich aber bereits, dass dieser sich nicht davon abhalten lassen würde. Obwohl es für Rahul immer noch absurd klingt und er nur ungern die Möglichkeit des gemeinsamen Träumens in Betracht zieht, ist er erleichtert. In diesem Fall könnte die Gabe durchaus von Vorteil sein.

»Es funktioniert also immer noch. Wir hatten darauf gehofft«, versucht er ihn aufzumuntern und grinst ihn dann an. »Du siehst entsetzlich aus.«

»Und genauso fühle ich mich auch«, gibt Siddharth schräg grinsend zurück, während er auf die Kaffeemaschine zusteuert, um sich eine Tasse einzuschenken. Danach kehrt er zu den anderen zurück, wo er sich erschöpft neben Shalini setzt. »Tut mir leid, ich bin einfach ausgerastet. Ich hätte dich nicht so anschreien dürfen. Kannst du mir das verzeihen?« Der Blick, mit dem er sie bedenkt, könnte Steine erweichen.

»Wer kann diesem Blick schon widerstehen. Mach dir keine Gedanken, ich kann dich ja verstehen.«

Er schenkt ihr daraufhin ein dankbares Lächeln und blickt dann fragend in die Runde. »Also, was gibt es für Pläne?«

Raj und Rahul bringen ihn auf den neuesten Stand der Dinge, was ihn nicht im Geringsten beruhigt, denn im Grunde genommen wissen sie nicht einmal mit Sicherheit, wo sich Adrianna im Moment aufhält. Dass sie in Omars Flugzeug ist, oder vielmehr war, heißt nicht, dass er sie mit zu sich nimmt. Sie könnte also überall sein.

Siddharth fällt es sichtlich schwer, ruhig sitzen zu bleiben. Als er es nicht mehr aushält, steht er auf und läuft nervös durch den Raum. Dann bleibt er vor Raj stehen. »Wo ist Carmen?«

Der sieht zerknirscht zu ihm auf. »Arjun kümmert sich um sie.«

Die beiden Männer sehen sich danach lange schweigend an. »Hast du es ihr gesagt?«

»Ich wollte sie nicht beunruhigen«, gibt Raj kopfschüttelnd zurück. »Aber ich denke, sie sollte es wissen.«

Zwar stimmt Siddharth ihm zu, blickt jedoch weiterhin besorgt in die Runde.

Sonakshi, die ihn seit seiner Ankunft sorgsam beobachtet hat, erhebt sich nun und tritt neben ihn. Während sie den Arm um seine Taille legt, spricht sie beruhigend auf ihn ein. »Ruh dich etwas aus. Im Moment können wir ohnehin nichts tun.«

»Ich muss wach bleiben. Sonst kann ich nachts nicht schlafen«, wehrt er sich, sieht sie dann aber bekümmert an. »Ich will sie zurückhaben. Sie ist mein Leben.«

Su drückt Siddharth tröstend an sich. »Komm, wir werden frische Luft schnappen. Geh ein Stück mit mir spazieren«, fordert sie ihn auf, woraufhin er sich wortlos von ihr hinausführen lässt.

Nach einer Weile durchbricht Sonakshi das Schweigen. »Sunehri hatte diese Gabe auch. Als wir Kinder waren, habe ich sie deswegen ausgelacht. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass so etwas möglich ist. Dann fing sie irgendwann an, von Juan zu träumen. Doch selbst da habe ich ihr nicht geglaubt. Erst als sie ihn geheiratet und mit ihm Indien verlassen hat. Ich habe ihr nie gesagt, dass ich im Unrecht war. Sie starb, ohne dass ich mich von ihr verabschieden oder um Verzeihung bitten konnte.«

Siddharth hat ihr aufmerksam zugehört. »Rahul weiß nichts davon, richtig?«

Sonakshi zuckt daraufhin bedauernd mit den Schultern. »Für ihn ist es immer noch unfassbar, dass so etwas möglich ist. Außerdem ist er enttäuscht, dass ihm Sunehri nie etwas darüber erzählt hat.«

»Du solltest mit Adrianna sprechen. Ich denke, sie kann dir bestimmt helfen.« Siddharth legt den Arm um ihre Schulter und Su lehnt kurz den Kopf an seine Brust. Dann blickt sie neugierig zu ihm auf.

»Wie ist das? Träumt ihr jede Nacht voneinander?«

»Nein«, lacht er kurz auf. »Das geht nur, wenn wir getrennt sind. Und wir haben beide die Gabe. Wir können es beeinflussen, ob wir miteinander träumen oder nicht.« Augenzwinkernd fügt er hinzu. »Aber Adrianna ist besser darin.«

Nun lacht auch sie und fragt weiter. »Hast du dich jemals gefragt, wie dein Leben heute aussehen würde, wenn du Adrianna nie gekannt hättest?«

Siddharth bleibt verwundert stehen. »Warum sollte ich mich so etwas fragen? Adrianna ist alles für mich. Ich will mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen, denn es ist nichts ohne sie. Weshalb stellst du mir diese Frage?«

»Wir haben nicht viel Zeit, sie da herauszuholen. Die Zentrale lässt uns noch sechsunddreißig Stunden. Sie sind an Omar interessiert. Adrianna zu verlieren, bedeutet für sie nur Kollateralschaden.« Su schließt die Augen und zieht den Kopf ein, denn eigentlich erwartet sie Siddharths Wutausbruch. Stattdessen steht er nur da und blickt traurig in den Himmel.

»Oh Gott, bitte hilf ihr.«

Eine Zeit lang spazieren sie noch die Straße entlang. Langsam beruhigt er sich wieder, deshalb machen sie sich auf den Rückweg zu den anderen, die genauso tatenlos wie er darauf warten, was weiter geschehen wird. Die nächsten Stunden vergehen zäh, doch irgendwann wird es Zeit für Siddharth und er darf sich endlich hinlegen.

 

»Ich bin hier, Liebling.« Siddharth nimmt Adrianna erleichtert in die Arme.

Sie schmiegt sich glücklich lächelnd an ihn und streicht dann liebevoll über seine Wange. Da sie aber nicht weiß, wie viel Zeit ihnen bleibt, lässt sie sich auf die Knie sinken, wobei sie ihn mit sich zieht. Sie muss ihm zuerst erzählen, was sie in Erfahrung gebracht hat.

Siddharth hört ihr staunend zu, und am Ende ihrer Ausführungen sieht sie ihn stolz an.

»Du hättest mich sehen sollen. Ich habe so überzeugend gespielt, obwohl meine Knie wie Espenlaub gezittert haben. Dafür hätte ich jeden bekannten Filmpreis verdient. Ich glaube, ich sollte doch über eine Karriere als Schauspielerin nachdenken.«

»Aber keine Liebesfilme«, wirft er lachend ein und hebt drohend den Zeigefinger. »Du wirst keine öffentlichen Kussszenen drehen.«

Adrianna macht daraufhin einen Schmollmund. »Soll das heißen, dass du mich nur noch hinter verschlossenen Türen im Dunkeln küssen wirst?«

»Eigentlich will ich dich immer und überall küssen«, gibt er mit einem breiten Grinsen zurück, als er sie auf seinen Schoß hebt. »Jeder soll sehen, wie sehr ich dich liebe. Aber kein anderer Mann soll jemals deine Lippen berühren.«

»Ach ja«, seufzt Adrianna nun dramatisch auf. »Zurzeit werden meine Lippen überhaupt nicht berührt.« Sie zwinkert ihm dabei kokett zu.

Siddharth versteht die stumme Aufforderung. Er zieht sie fest in seine Arme und streift sanft über ihre Lippen. »Ich liebe dich«, flüstert er, während er zärtliche Küsse auf ihren Mund haucht.

Adrianna drängt sich an ihn, was ihm ein Stöhnen entlockt. Siddharth strahlt sie voller Glück an, als sie ihm liebevoll über das Gesicht streicht. »Ich liebe dich, Frau Raichand«, murmelt er rau, bevor er sie noch einmal leidenschaftlich küsst. So lange, bis der Traum zu Ende ist und beide aufwachen.

Adrianna bleibt glücklich lächelnd liegen, Siddharth hingegen erhebt sich rasch.

Er sucht Rahul, den er schließlich im Konferenzraum findet. Dieser springt erschrocken hoch, als Siddharth zur Tür hereinstürmt, wobei er sich hastig über das Gesicht wischt, ehe er ihm fragend entgegenblickt. »Geht es ihr gut?«

»Ich muss dringend etwas aufschreiben, bevor ich es vergesse«, entgegnet Siddharth kurz angebunden und nimmt Papier und Stift entgegen, das ihm Rahul reicht. »Adrianna soll für Omar Abschusscodes verschiedener Staaten besorgen. Aber er will diese Codes nicht für sich selbst. Er muss sie im Auftrag beschaffen.« Während er darüber berichtet, notiert er die Länder, die sie ihm genannt hat.

Rahul blickt ihm dabei über die Schulter. »Bist du dir sicher, dass es sich um diese Länder handelt?« Zweifelnd betrachtet er die Notizen. »Keiner dieser Staaten bedeutet eine Bedrohung. Sie verfügen, wenn überhaupt, nur über kaum gefährliche Raketen.«

Siddharth legt nachdenklich den Stift zur Seite, während er sich langsam umdreht. »Jedes für sich genommen vielleicht. Was aber, wenn sie sich zusammentun?«

»Guter Einwand«, gibt Rahul nachdenklich zurück. Dann drückt er den Knopf einer Sprechanlage. »Lakshman und Hektor, sofort in den Konferenzraum!« Er nimmt wieder Platz und betätigt noch einmal die Anlage: »Wecken Sie meine Familie.«

Sonakshi und Raj sind die Ersten, die den Raum betreten. Beide sehen fragend zu Siddharth, der nur die Hände hebt. »Ich werde es euch erst erzählen, wenn alle da sind.«

Nun schlüpft Shalini zur Tür herein, wobei sie geschickt ein Tablett vor sich her balanciert, das sie auf dem Tisch abstellt. Nach einem Blick in die Runde füllt sie kurzerhand die Tassen mit Kaffee.

Wieder öffnet sich die Tür. »Jungs, eure Streitereien sind sehr ermüdend.« Laura, Laksh sowie Hektor betreten nacheinander den Konferenzraum. Letzterer bleibt jedoch entsetzt stehen, als er Siddharth sieht.

»Was will der hier?«

Grimmig sehen sich die beiden an. Hektor und Siddharth sind sich spinnefeind, wobei Siddharth keine Ahnung hat, warum das eigentlich so ist. Er kennt Hektor aus seiner Studienzeit in Goa, hatte dort aber kaum Kontakt zu ihm. Überhaupt konnte er sich nur an ihn erinnern, weil er Nikki heimlich verfolgt hat.

»Ihr könnt euch an die Gurgel gehen, wenn das hier vorbei ist.« Rahul wirft Hektor einen drohenden Blick zu, dann schiebt er die Liste zu Laksh. »Ich will ein Szenario über die Angriffskraft dieser Länder, wenn alle Raketen zeitgleich abgefeuert werden.«

Sowohl Lakshman als auch Hektor sehen sich die Liste neugierig an. »Auf welches Ziel gerichtet?«, will Laksh wissen, als er sich setzt, um die Notiz genauer zu betrachten.

»Spielt das eine Rolle?«, fragt Raj, woraufhin Hektor zischend ausatmet und heftig erwidert:

»Das fragst du jetzt nicht ernsthaft, oder?«

Raj will daraufhin etwas entgegnen, wird aber von seinem Vater unterbrochen. »Wo könnte der größtmögliche Schaden angerichtet werden?«

Lakshman greift nach dem Papier und steht auf. »Ich stelle gleich einige Berechnungen an.«

Hektor erhebt sich ebenfalls, um dem Kollegen hinterher zu eilen. »Du kannst nicht mal den Inhalt deiner Geldbörse bestimmen.« Während sie den Raum verlassen, versucht Hektor vergeblich, seinem Kollegen die Aufstellung wegzuschnappen,

»Jetzt sag schon, Sidhu, wie geht es AJ«, fragt Shalini aufgeregt. Auch Laura, Sonakshi und Raj blicken ihn abwartend an.

»Es geht ihr ...«

Abrupt bricht er ab und kann nicht mehr weitersprechen. Er fasst sich an den Hals. Kalter Schweiß rinnt ihm über die Stirn, als ihn panische Furcht überkommt. Atemlos starrt er die anderen an und keucht: »Ich spüre sie. Adrianna. Sie hat entsetzliche Angst.«

Sonakshi eilt zu ihm und legt den Arm um seine Schulter, während ihn alle anderen bestürzt ansehen.

Kapitel 2 – Heimkehr

Adrianna springt vom Bett auf, weil sie aufgeregte Rufe unter ihrem Fenster vernimmt. Angestrengt versucht sie, durch das Spalier etwas zu erkennen, kann aber nur die Stimmen ausmachen.

»Bitte, ich erfülle die Forderung, aber ich brauche noch mehr Zeit. Sie werden die Codes bekommen. Aber bitte tun sie Aysha nichts. Ich beschaffe die Codes.«

Sie hört Omar, der sich wie ein Wurm windet. Angewidert tritt sie zurück vom Fenster, als ein anderer Mann spricht, bei dessen Klang ihr Gesicht alle Farbe verliert. Ohne Vorwarnung wird ihr derart übel, dass sie sich übergeben muss. Als sie sich wieder aufrichtet, um nach unten zu sehen, blickt sie direkt in das Gesicht von Bertram, ihrem Exmann.

Rasch entfernt sie sich vom Fenster, hofft, dass er sie nicht gesehen hat. Das Herz schlägt ihr dabei bis zum Hals. Sie hat panische Angst. Wie eine Flutwelle brechen die Erinnerungen an all seine Misshandlungen über sie herein. Kaum mehr fähig zu atmen, gerät sie ins Taumeln und lässt sich auf das Bett fallen.

Ganz ruhig. Er hat keine Macht mehr über dich. Du bist nicht mehr das Opfer.' Adrianna versucht, sich selbst zu beruhigen, als die Tür aufspringt und Bertram mit hasserfülltem Blick eintritt. Trotz ihrer schrecklichen Furcht steht sie langsam auf, richtet sich ganz bewusst zu ihrer vollen Größe auf und hebt stolz den Kopf, wobei sie ihn herausfordernd anlächelt. »Na, Bertram? Wieder mal unterwegs, um ein paar Frauen zu verprügeln?«

»Sieh einer an, AJ. Was verschlägt dich hierher? Bist wohl doch in Scheich Omars Harem gelandet, was?« Als er mit einer einschüchternden Gebärde einige Schritte auf sie zu macht, sieht sie ihn ungerührt aus halb geschlossenen Lidern ebenfalls grimmig an. Auch sie geht ihm langsam entgegen.

Für einen Moment bemerkt sie ein erstauntes Flackern in seinen Augen, doch einen Wimpernschlag später blickt er sie erneut mit unverhohlenem Hass an. »Hast wohl alles verlernt, was ich dir beigebracht habe? Zeit für 'ne neue Lektion.«

Bertram hebt drohend die Hand, Adrianna aber erwidert völlig unbeeindruckt: »Du bist noch die gleiche armselige Kreatur, die du früher schon warst. Versuchst du immer noch, deine geistige Inkompetenz durch Gewaltausbrüche zu kompensieren? Nur zu. Tu dir keinen Zwang an.« Sie bemerkt sein Zögern und fährt unvermindert fort. »Hat dich der Mut verlassen? Gehorchen dir deine Fäuste nicht mehr?«

Adrianna lächelt fast schadenfroh, doch nun stürmt Bertram wutentbrannt auf sie zu. Mit der linken Hand greift er grob nach ihrem Arm, um sie festzuhalten. Gleichzeitig schlägt er mit der rechten Hand nach ihrem Gesicht. Adrianna dreht jedoch den Kopf, sodass er nur knapp an ihrer Wange vorbeischrammt, und jagt ihm dafür ihre Faust in den Bauch.

Überrascht von ihrer Gegenwehr taumelt er einen Schritt zurück, holt jedoch erneut aus, um ihr einen Kinnhaken zu verpassen. Adrianna aber packt mit beiden Händen nach seiner Faust, duckt sich darunter hinweg und dreht seinen Arm auf den Rücken. Eine Hand stemmt sie gleich darauf unter seinen Ellbogen, den sie nach oben drückt, während sie die andere fest um sein Handgelenk presst und dann hinter ihm in die Knie geht.

Sie zwingt ihn dadurch ebenfalls zu Boden, wobei er mit dem anderen Arm wild nach ihr schlägt, doch sie kann ihm einige Male geschickt ausweichen. Als sie allerdings die Hand unter seinem Ellenbogen hervorzieht, packt er sie an den Haaren und zieht ihren Kopf zu sich.

»Verfluchtes Miststück, ich hätte dich gleich erledigen sollen«, japst er und keucht überrascht, als ihm Adrianna den Arm verdreht. Bertram versucht sich zu befreien, indem er kräftig mit den Beinen um sich tritt..

Während er weiterhin an ihren Haaren zerrt, drückt Adrianna ihren Ellenbogen gegen seinen Hals. Sie zwingt sich zur Ruhe und raunt in sein Ohr: »Ich habe keine Angst mehr vor dir. Lass … mich … los! Ich werde nicht zögern, dir den Kehlkopf zu zertrümmern.«

Sie spürt, wie seine Gegenwehr leicht nachlässt, ist aber trotzdem auf der Hut und verstärkt den Druck auf seinen Hals, obwohl er zu röcheln beginnt. Es bereitet ihr Genugtuung, ihn so vor sich zu sehen, aber sie ist noch nicht fertig mit ihm und lächelt arglistig, als sie ihn fragt: »Sag mir, für wen sind die Codes? Oder willst du sie für dich selbst?«

Bertram bringt nur noch ein Krächzen zustande. »Einen Scheiß werde ich, du verhurtes Dreckstück«, presst er angestrengt hervor, was Adrianna jedoch nur ein kaltes Lachen entlockt.

»Was für eine liderliche Ausdrucksweise, aber das, mein Lieber, war die falsche Antwort.« Sie verstärkt den Druck an seinem Hals noch weiter. Bertram lässt daraufhin zwar ihre Haare los, zerrt dafür aber an ihrem Ellenbogen. Bevor er ihn jedoch richtig zu fassen bekommt, zieht sie mit einem kräftigen Ruck den Arm hinter seinem Rücken in die Höhe. Sie hört ein Knacken in seiner Schulter und gleichzeitig schreit er schmerzerfüllt auf. Adrianna hat ihm die Schulter ausgekugelt.

»Warte, AJ, nicht«, jammert er unter Schmerzen.

Nur leicht lockert sie den Druck an seinem Kehlkopf und flüstert an seinem Ohr: »Vergeude nicht meine Zeit.«

Bertram windet sich unter ihr, aber Adrianna hält ihn fest im Griff und verstärkt den Druck auf seine Kehle erneut.

»Kim Cheong«, keucht er. »Die Codes sind für Kim Cheong«.

Im gleichen Augenblick stürzt Omar ins Zimmer. Er beobachtet entsetzt die Szene, doch bevor er eingreifen kann, blickt Adrianna ihm zornig entgegen, woraufhin er augenblicklich stehenbleibt.

Sie wendet sich wieder an ihren Exmann. »Wo ist Aysha!«

Bertram versucht den Kopf zu drehen, Adrianna drückt jedoch ihren Ellenbogen fester gegen seinen Hals. Zudem dreht sie seinen Arm erneut nach oben, was ihm einen gellenden Schrei entlockt. Sein Wimmern klingt erbärmlich.

»Sag es!«, fordert sie ihn eindringlich auf, während sie mit Genugtuung sein schmerzverzerrtes Gesicht betrachtet.

Bertrams Atem rasselt, als er antwortet. »Bei Hassan. Hassan Nasreen.«

Adrianna wendet den Blick zu Omar, der daraufhin aus dem Zimmer eilt.

Voller Hass und Ekel blickt sie wieder zu Bertram, als zwei von Omars Wachmännern herein stürzen. Sie packen ihn grob und schleifen ihn fort. Seine Schreie hallen durch den Palast, während sich in Adriannas Kopf alles zu drehen beginnt und sie besinnungslos zu Boden sinkt.

 

Siddharth fällt schwer atmend zurück auf seinen Stuhl. Mit einer fahrigen Bewegung wischt er sich den Schweiß von der Stirn.

Sonakshi steht nach wie vor neben ihm und streicht besorgt über seine Schulter. »Spürst du sie noch?«

»Nein«, presst er mühsam hervor. Immer noch außer Atem steht er langsam auf. Ohne ein weiteres Wort verlässt er den Konferenzraum in Richtung Kantine, weil er ungestört sein möchte. Er muss sich beruhigen, bevor er sich hinlegt, um zu schlafen und damit seine Frau zu erreichen. Die Angst um sie, nicht zu wissen, wie es ihr geht, erschwert das allerdings sehr. Je mehr er sich zur Ruhe zwingt, desto ungeduldiger wird er. Bis er so weit ist einzuschlafen, dauert es beinahe eine Stunde.

 

~~~~~

 

Adrianna sitzt zusammengekauert in einer Ecke des Spiegelsaals. Die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, wippt sie stumm vor und zurück, während sie gleichzeitig nervös an ihrer Lippe kaut.

Um sie nicht zu erschrecken, geht Siddharth vorsichtig auf seine Frau zu. Voller Sorge setzt er sich neben sie und zieht sie langsam in seine Arme. Behutsam streichelt er sie und flüstert ihr tröstende Worte zu.

Nach einer Weile spürt er erleichtert, wie ihre Anspannung allmählich nachlässt. Jetzt erst blickt sie zu ihm auf. Ihr Gesicht scheint völlig blutleer, während sich in ihren Augen immer noch die Angst abzeichnet, die Siddharth ebenso gespürt hat. Doch endlich bricht der Damm und sie vergräbt schluchzend ihr Gesicht an seinem Hals.

Siddharth streicht ihr zärtlich durchs Haar. »Ich bin bei dir, mein Herz. Dir kann nichts passieren«, spricht er leise auf sie ein, bis ihre Tränen schließlich versiegen..

»Es war entsetzlich«, schluchzt sie noch einmal auf, bevor sie sich tief durchatmend aufrichtet. »Bertram hat Ammed bedroht. Er soll die Codes für einen Kim Cheong beschaffen. Im Gegenzug bekäme er Aysha zurück, die er bei einem Hassan Nasreen gefangen hält.«

Ihre Stimme zittert zwar immer noch, doch nun lächelt sie ihren Mann liebevoll an. »Du musst dich beeilen. Hol mich nach Hause, mi corazón.«

Siddharth zieht sie noch einmal fest in die Arme, um sie leidenschaftlich zu küssen. Dann zwingt er sich aufzuwachen.

 

»Kim Cheong. Kim Cheong will die Codes haben«, raunt Siddharth, noch bevor er die Augen aufschlägt. Als er sich dann aufrichtet, sieht er Rahul, der bereits auf dem Weg nach nebenan ist. Um nichts zu verpassen, jagt er ihm hinterher.

Während er zur Tür läuft, hört er aufgeregte Rufe von nebenan. »Nicht Jong, Cheong. Herrgott, konzentriert euch, Leute, ich will alles über ihn wissen. Rohit! Ich brauche eine Leitung nach Washington!«

Rahul blickt sich suchend um. »Su! Laura!«, ruft er den Frauen zu, wobei er auf die Tür zum Konferenzraum deutet. Gleichzeitig bewegt er sich dorthin.

Raj klopft Siddharth, der nun ebenfalls in der Halle steht, auf die Schulter. »Alles klar mit dir? Wir holen sie da raus. Keine Panik.« Dann folgt er seinem Vater.

Siddharth kommt sich verloren vor. Um ihn herum herrscht geschäftiges Treiben. Er hingegen kann nichts tun, als abzuwarten. Shalini sieht mitleidig zu ihm herüber. Mit einem Kopfnicken deutet sie an, er solle wieder in die Kantine gehen, was er, wenn auch widerwillig, tut.

Er ist derart außer sich, dass er am liebsten etwas zertrümmern möchte. Stattdessen holt er sich Kaffee, ehe er sich setzt. Der Versuch, sich zu beruhigen, misslingt, weil er zu ungeduldig ist, um ruhig auszuharren. Seine Sorge um Adrianna ist viel zu groß, als dass er still dasitzen kann, deshalb springt er auf. Nervös läuft er zwischen den Sitzgruppen umher, während sich seine Gedanken überschlagen. ‚Chandni, halte durch. Wir kommen. Wir holen dich.’ Völlig allein wartet er in der Kantine, den Blick immer wieder auf die Tür gerichtet.

‚Liebling, wie schaffst du es nur, dich ständig in solche Situationen zu manövrieren? Ich sollte dich wirklich keinen Moment mehr aus den Augen lassen, damit dir nicht doch noch etwas zustößt.'

Siddharth denkt an all die Gelegenheiten, in denen seine Frau schon in ernster Gefahr schwebte. Seufzend schüttelt er den Kopf ‚Ich liebe dich wirklich sehr, aber manchmal glaube ich, ich bin dem nicht gewachsen. Wir haben uns ein ruhigeres Leben verdient.

Gerade holt er sich frischen Kaffee, als Shalini hereinkommt. Sie runzelt die Stirn, als sie im Vorbeigehen ein klingelndes Handy von einem der Tische nimmt. Nach einem Blick auf das Display reicht sie es jedoch an Siddharth weiter, denn es ist seines.

Er meldet sich erschöpft. »Ja?«

»Wie bitte? Ich bekomme nur ein müdes Ja? Störe ich dich bei etwas? Ich kann auch gerne später ...«, kommt die Frage vom anderen Ende der Leitung.

Siddharth ist jedoch von einer Sekunde zur nächsten hellwach. Ein glückliches Lächeln huscht über sein Gesicht, welches dann einem spitzbübischen Schmunzeln weicht. »Oh, du sollst mich doch nicht auf diesem Handy anrufen«, unterbricht er die Stimme. »Meine Frau könnte uns erwischen.«

»Deine Frau ist nicht da, falls dir das entgangen ist.«

»Ist sie nicht? Dann können wir ja ungestört plaudern.« Er ist unendlich erleichtert, dass sie am Telefon so fröhlich klingt. »Geht es dir gut? Bist du in Sicherheit? Wo bist du jetzt? Ich sage Rahul, er soll gleich jemanden losschicken, der dich abholt ...«

»Liebling, du plapperst«, fällt sie ihm zwar energisch ins Wort und muss dann doch kichern. »Es geht mir gut. Ich bin in Sicherheit. Onkel Rahul muss nichts unternehmen, denn ich bin bereits auf dem Heimweg. Omar bringt mich in seiner Maschine zurück. Wir werden in wenigen Minuten starten.«

Gleich darauf ist es still in der Leitung. Siddharth befürchtet, dass die Verbindung unterbrochen ist, doch dann hört er, wie Adrianna zaghaft fragt: »Wirst du da sein, wenn ich morgen zurückkomme, oder bist du noch in London?«

»Du kannst Fragen stellen! Natürlich bin ich sofort nach Indien zurückgekehrt, nachdem ich erfahren habe, was passiert ist. Ich hole dich vom Flughafen ab.«

»Das musst du nicht. Wir wissen noch nicht, wo genau wir landen werden. Aber keine Sorge, Ammed hat bereits alles in die Wege geleitet. Er bringt mich ...« Sie unterbricht kurz, denn sie spricht wohl mit Omar. »Es wird das Beste sein, wenn wir uns im Büro treffen. Ich schätze Onkel Rahul hat eine Menge Fragen.«

»In Ordnung, ich erwarte dich also hier«, ist das Einzige, was er noch erwidern kann, bevor die Leitung endgültig zusammenbricht, doch er atmet erleichtert durch. Danach dreht er sich lachend zu Shalini um. Ausgelassen wie ein Teenager dreht er sich mit ihr im Kreis.

Sie hat dem Gespräch zunächst kopfschüttelnd gelauscht, ist allerdings genau so froh, dass ihre Cousine unbeschadet zurückkehren wird, deshalb lässt sie sich von ihm ungestüm herumwirbeln.

»Adrianna kommt nach Hause«, jubelt er fröhlich und drückt Shalini einen Kuss auf die Wange, bevor er zur Kantine hinausstürmt. Der Rest der Familie soll die Neuigkeit ebenfalls erfahren.

Rahul verlässt gerade zufrieden lächelnd den Konferenzraum. »Siddharth!« Er strahlt ihm entgegen. »Wie es scheint, haben wir es wieder einmal den Raichands zu verdanken, dass eine Akte geschlossen werden kann. Cheong stand schon seit geraumer Zeit unter Beobachtung. Die Anschuldigungen, die wir jetzt gegen ihn erheben, dürften ihn für einige Zeit aus dem Verkehr ziehen.« Er klopft ihm dabei wohlwollend auf die Schulter. »Wir werden Adrianna nach Hause holen.«

Siddharth unterbricht Rahul allerdings. »Das ist nicht nötig. Sie ist schon unterwegs, Omar bringt sie uns zurück.«

»Gut«, merkt Rahul an. »Er hat uns ohnehin eine Menge Fragen zu beantworten.«

 

~~~~~

 

Siddharth ist seit den frühen Morgenstunden zurück in dem alten Backsteingebäude. Rahul hatte ihn am vergangenen Tag nach Hause geschickt, doch er hielt es dort nicht aus. Vor allem nicht, weil er befürchtete, er könnte Adriannas Ankunft verpassen.

Rajs Versuch, Siddharth Gesellschaft zu leisten, scheitert kläglich, weil er mit ihm nichts anzufangen weiß. Seit einer geschlagenen Stunde läuft er ungeduldig den Kantinenraum auf und ab.

»Setz dich endlich hin. Du machst mich verrückt, wenn du hier umherläufst wie ein Tiger im Käfig.« Er bittet ihn nun schon zum dritten Mal, stößt aber auch jetzt auf taube Ohren. Erst als die Tür unerwartet aufschwingt, bleibt Siddharth stehen.

Adrianna steht strahlend im Eingang und wirft sich, nach einem kurzen Blick auf ihren Cousin, jubelnd in die Arme ihres Mannes. »Endlich. Die Zeit wollte gar nicht vergehen.«

Mit einem Seufzer der Erleichterung drückt er sie an sich. Dann sieht er sie glücklich an. »Ich hatte wirklich Angst um dich.« Unendlich zärtlich reibt er sein Gesicht an ihrer Wange, wobei er in ihr Ohr raunt: »Du bist mein Leben. Wenn dir etwas passiert wäre …«

Adrianna lässt ihn nicht weitersprechen. Wortlos legt sie einen Finger auf seinen Mund und zeichnet sanft dessen Konturen nach. Voller Sehnsucht drängt sie sich an ihn. Sie blickt ihn liebevoll an, bis er endlich den Kopf senkt. Zuerst berührt er nur federleicht ihre Lippen, doch dann küsst er sie mit einer Inbrunst, die ihre Knie weich werden lässt.

Raj hat ihr Wiedersehen schmunzelnd beobachtet. Jetzt steht er allerdings seufzend auf und klopft Siddharth auf die Schulter. »Nehmt euch ein Zimmer«, fordert er ihn ungeduldig auf, während er zur Tür geht.

Siddharth löst sich nur zögernd von Adrianna. »Lass uns nach Hause fahren «, flüstert er ihr zu, bevor er sie hinausführt.

Auf dem Heimweg sprechen sie über die Ereignisse der letzten zwei Tage. Gebannt lauscht er Adriannas Schilderungen, bevor er erzählt, was sich hier ereignet hat. Danach schmiegt sie sich für einen Moment glücklich in seinen Arm, richtet sich jedoch gleich darauf wieder verlegen auf.

»Es tut mir leid, dass ich dir schon wieder solche Schwierigkeiten mache«, sagt sie kleinlaut, woraufhin Siddharth stutzt.

»Wovon redest du?«

Adrianna blickt immer noch betreten vor sich hin, als sie antwortet: »Du solltest doch in London sein, um die Dreharbeiten zu beenden. Was hat Yash dazu gesagt, als du so schnell wieder abgereist bist? Er war doch bestimmt außer sich.«

»Darüber machst du dir Sorgen?«, wirft er amüsiert ein. »Der Film interessiert mich nicht die Bohne. Außerdem ist mir Yashs Meinung herzlich egal, denn nichts kann wichtiger sein als meine Frau.« Damit zieht er sie wieder an sich, was Adrianna nur allzu gerne geschehen lässt. Allerdings macht sie sich weiterhin Gedanken.

»Er könnte deine Karriere mit einem Schlag beenden. Du musst ihn anrufen. Vielleicht zeigt er Verständnis, wenn du es ihm erklärst.«

»Nun hör schon auf. Es ist alles gut. Zarina hat mit ihm gesprochen. Yash war entsetzt, als er den Grund für meine überstürzte Abreise erfuhr. Vermutlich hätte er mit den Kopf abgerissen, wenn ich nicht umgehend zurückgeflogen wäre. Er kann dich ziemlich gut leiden. Also entspann dich.«

»Entspannen? Also danach steht mir gerade wirklich nicht der Sinn«, kontert sie kokett, während sie zärtlich über seine Brust streicht.

»Schamloses Frauenzimmer«, entgegnet er trocken, wobei er sie zwar tadelnd ansieht, aber Adrianna kann das Glitzern in seinen Augen sehen. Außerdem bemerkt sie, dass ihre Berührung ihn keineswegs kalt lässt.

 

Als sie wenig später zu Hause ankommen, werden sie fast augenblicklich von Neha, Padma und Kabir umringt. Dem Geschnatter, weil alle drei gleichzeitig sprechen, kann Adrianna nichts Sinnvolles entnehmen. Allerdings hört sie deutlich heraus, dass sie erleichtert sind, sie wieder zu Hause zu haben. Dafür bedankt sie sich bei ihnen, entschuldigt sich jedoch auch für das Chaos, das sie angerichtet hat, worüber Siddharth wieder einmal den Kopf schüttelt.

»Es war nicht deine Schuld. Hör auf, dich ständig für etwas zu entschuldigen, wofür du nichts kannst. Omar hat dich entführt. Du konntest nichts dagegen tun«, hält er ihr vor, als er sie nun hineinführt, doch in der Eingangshalle zieht er sie zärtlich an sich.

Er legt einen Finger unter ihr Kinn und hebt ihr Gesicht an, damit er in ihre Augen sehen kann, in denen sich all die Liebe widerspiegelt, die auch er für sie empfindet. »Ich liebe dich, Frau Raichand.«

Adriannas Augen blitzen auf, während sie die Arme um seinen Nacken schlingt. »Du redest zu viel«, murmelt sie, während sie wie gebannt auf seinen Mund starrt. Sie zieht seinen Kopf zu sich, doch bevor sie seine Lippen berührt, haucht sie: »Du bist mein Leben, ich bin nichts ohne dich.«

Siddharth presst sie fest an sich. Er erdrückt sie fast an seiner Brust, und endlich senkt er seinen Mund auf den ihren, stillt ihre Gier nach dem heißersehnten Kuss. Gleichzeitig entfacht er ein Feuer, das sie erregt aufstöhnen und nach mehr verlangen lässt, doch sie zügelt ihre Lust. Völlig außer Atem löst sie sich von ihm.

Siddharth, nicht minder erhitzt, sieht sie verwirrt an. Als Antwort darauf lächelt sie ihm gequält entgegen.

»Zuerst muss ich all den Schmutz loswerden. Ich gehe duschen.« Nach einem koketten Augenaufschlag hastet sie zur Treppe. Sie schwingt aufreizend mit den Hüften, als sie nach oben geht. Dabei lacht sie leise vor sich hin.

»Jetzt ist nicht die Zeit für Spiele, Weib«, ruft er ihr belustigt hinterher, weshalb Adrianna in schallendes Gelächter ausbricht, unterdessen aber weiter die Stufen hinaufjagt. Siddharth läuft lachend hinter ihr her, erreicht sie aber erst, als sie gerade die Tür zum Badezimmer schließen will.

»Warte, bis ich fertig bin, dann kannst du hereinkommen, ich werde zuerst duschen.« Sie stemmt sich gegen die Tür, hat aber nicht genügend Kraft. Er drückt sie einfach auf.

»Treib es nicht zu weit. Ich bin auch nur ein Mann.«

Siddharth baut sich mit finsterer Miene vor ihr auf, gleichzeitig zieht er sich das Hemd aus. Fasziniert vom Spiel seiner Muskeln, lässt Adrianna ihre Blicke über seinen Körper gleiten. Erst als er beginnt, seine Hose zu öffnen, kommt wieder Bewegung in sie.

»Und was für einer, aber du wirst trotzdem warten müssen«, kontert sie frech. Mit einer einzigen Bewegung schlüpft sie aus ihrem Kleid. Ebenso rasch entledigt sie sich ihrer Unterwäsche. Aus den Augenwinkeln kann sie sehen, wie er sie dabei beobachtet, weshalb sie ihn verführerisch anlächelt. Gleichzeitig greift sie nach der Tür zur Dusche.

»Ich denke nicht einmal im Traum daran«, stößt Siddharth stöhnend aus und packt sie an der Taille.

Adrianna versucht zwar, ihm zu entkommen, er aber zieht sie mühelos zurück in seine Arme. Im selben Augenblick lässt ihr Widerstand nach. Sie weiß nicht, wie er das gemacht hat, denn er steht jetzt ebenso unbekleidet vor ihr, weshalb sie heftig schlucken muss. Ihre Hände wandern sanft über seine Brust zu seinem Nacken, wo sie sich in seinem dichten, weichen Haar vergraben.

Siddharth stöhnt auf vor Verlangen, als sie sich ihm entgegenstreckt, um ihn zu küssen. Die Hände an ihrer Taille hebt er sie hoch, damit sie spüren kann, wie sehr er sich nach ihr verzehrt. Adrianna seufzt im gleichen Moment lustvoll auf. Ohne den Kuss zu unterbrechen, schlingt sie ihre Beine um seine Hüften. Ganz dicht drängt sie sich an ihn, spürt die Hitze, die von ihm ausgeht, als Siddharth unvermittelt den Kopf hebt.

»Du bist ein Teufelsweib, Frau Raichand«, keucht er, während sein feuriger Blick den ihren gefangen hält und er schwer atmend mit ihr unter die Dusche tritt.

 

Nach dieser in jeder Hinsicht erquickenden Dusche, wickelt sich Adrianna in ein Handtuch. Da sie Siddharth nebenan sprechen hört, geht sie zu ihm ins Schlafzimmer, wo er, nur mit einem Handtuch bedeckt, auf dem Bett liegt und telefoniert.

»Klingt interessant. Also für mich ... was meinst du mit ihr? Adrianna auch?« Er setzt sich auf, als er seine Frau hereinkommen sieht. »Warte, Tanya. Adrianna kommt gerade. Ich stelle auf Lautsprecher.«

»Hallo, Adrianna. Sie wollten doch eigentlich bei mir vorbeikommen, was ist dazwischen gekommen?«, beginnt Tanya, als Siddharth sie unterbricht.

»Das kannst du morgen in der Zeitung lesen. Komm zur Sache, Tanya.«

»Also, Adrianna. Ich möchte Sie gerne in meinem nächsten Film besetzen. Gemeinsam mit Sidhu.«

Adrianna sieht ihren Mann zwar überrascht, aber dennoch mit blitzenden Augen an und antwortet: »Wenn mir die Story gefällt, dann mache ich es.«

Beide hören ein erleichtertes Seufzen vom anderen Ende der Leitung.

»Gut, dann kommt am besten morgen früh vorbei.«

»Tut mir leid, Tanya, das müssen wir verschieben.« Mit diesen Worten legt Siddharth breit grinsend auf. »Denn die nächsten Tage verbringe ich allein mit meiner Frau«, ergänzt er an Adrianna gewandt und zieht sie flink auf seinen Schoß. »Küss mich«, fordert er sie glücklich lächelnd auf, woraufhin ihm Adrianna einen Kuss auf die Wange gibt.

»War das gut so?«, fragt sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag.

Er hingegen rümpft kopfschüttelnd die Nase. »Versuch es noch einmal.«

Sie haucht zwei Küsse auf seine Augen, aber auch das scheint ihn nicht zufrieden zu stellen. Statt sie jedoch noch einmal aufzufordern, dreht er sich und lässt sich mit ihr aufs Bett fallen. Auf ihr liegend streicht er ihr das feuchte Haar aus dem Gesicht. »Oh, Adrianna, ich liebe dich. Ich hatte wirklich Angst um dich.«

Auch wenn sie genauso viel Angst hatte wie er, will sie jetzt trotzdem nicht daran denken. »Ich liebe dich. Mehr als ich Worte fassen kann. Du bist alles für mich. Siddharth, mein Leben, mein Herz.«

Er senkt die Lippen zum Kuss. Langsam fährt er über Adriannas Mund, während sie ihre Hände zärtlich über seinen Rücken nach unten gleiten lässt. Dabei schiebt sie das Handtuch weg.

»Was tust du da?«, fragt er atemlos. »Hast du denn noch nicht genug?«

Adrianna lächelt ihn unschuldsvoll an. »Ich streichle nur deinen süßen Hintern.«

Siddharth verzieht daraufhin den Mund und rollt sich von ihr herunter, streckt aber einen Arm aus, um sie an sich zu ziehen. »Sie sind schamlos, Frau Raichand«, raunt er und haucht einen Kuss auf ihre Schläfe. Sie erwidert nichts darauf, stattdessen schmiegt sie sich kichernd an ihn.

»Du fliegst also nicht gleich wieder nach London?«, fragt Adrianna nach einer Weile.

»Nein, erst wenn Karan aus Delhi zurück ist. Er hat mich auf dem Rückflug begleitet. Wir werden gemeinsam nach London fliegen. Die nächsten Tage gehören also nur uns alleine.«

»Ehrlich?«, ruft sie erfreut aus, während sie sich aufrichtet, um ihn anzusehen. »Du hast keine Termine?«

»Ich gehöre ganz dir, Frau Raichand«, erwidert er mit einem strahlenden Lächeln. »Verfüge über mich nach Belieben, aber tu mir bitte einen Gefallen. Lass es etwas ruhiger angehen.«

»Was meinst du denn damit?«, gibt sie stirnrunzelnd zurück.

Siddharth setzt sich auf, stopft sich das Kopfkissen in den Rücken und lehnt sich an das Kopfteil des Bettes. »Also ehrlich, was könnte ich wohl damit meinen? Seit wir zusammen sind, stürzen wir von einer Katastrophe in die nächste. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendetwas passiert. Eine Horde Kinder zu hüten könnte nicht anstrengender sein als das Leben an deiner Seite.«

»Du findest es also anstrengend, mit mir verheiratet zu sein?«, wirft Adrianna verwundert ein. Ihr liegt noch mehr auf der Zunge, Siddharth lässt ihr aber keine Gelegenheit für weitere Einwände.

»Das habe ich nicht gesagt, und schon gar nicht so gemeint. Ich liebe dich, mein Herz. Es ist nur so … Wann haben wir das letzte Mal gemütlich gefrühstückt. Oder sind irgendwo spazieren gegangen. Haben uns einen Film im Kino angesehen. Oder waren einfach nur zu Hause? Vielleicht kannst du dich noch daran erinnern, als ich dir sagte, ich wolle dich nicht teilen? Damals dachte ich dabei nur an Kinder. Dass ich dich aber praktisch mit Jedermann teilen muss, gefällt mir nicht. Können wir nicht einfach eine normale Ehe führen?«

»Normal ist langweilig«, schnaubt Adrianna trotzig, während sie sich nun ebenfalls aufsetzt und sich an ihn lehnt. »Du hast ja Recht, mi corazón. Aber gib mir nicht die Schuld daran. Ich kann doch gar nichts dafür.«

»Ach, kannst du nicht?« Die Augen übertrieben geweitet sieht er sie an. Dann legt er den Arm um sie. »Du bist in Madrid angeschossen worden. Wenn du dich nicht absichtlich in die Flugbahn der Kugeln geworfen hättest, wäre dir nichts gesch ...«

»Mir blieb doch gar keine Wahl. Die Männer haben auf dich gezielt. Du könntest tot ...«

»Das wissen wir nicht«, fällt er ihr ins Wort. »Vielleicht hätten sie mich verfehlt. Wie auch immer, du hast dich in diese Gefahr begeben. Als nächstes dieses getarnte Attentat auf dich. Monatelang wurdest du versteckt gehalten. Daran, was Ranjesh mit dir angestellt hätte, wäre ich nicht da gewesen, will ich gar nicht denken. Und jetzt deine Entführung. Du ziehst Katastrophen an, wie das Licht die Motten.«

Während Adrianna ihm zuhört, schwankt sie zwischen Empörung und Schuldgefühl. »Ist ja gut. Ich weiß, was du meinst, obwohl du mir nicht an allem die Schuld geben kannst. Schließlich … Ach, egal. Ich habe keine Lust, über Geschehenes zu diskutieren. Ändern kann ich es ohnehin nicht, aber ich werde versuchen, von nun an ruhiger zu sein.«

»Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, lacht Siddharth auf. »Ich nehme dich beim Wort, Frau Raichand.« Nach einem Kuss auf ihre Wange fragt er neugierig: »Was möchtest du morgen tun?«

»Eigentlich sollten wir die Wohnung ausräumen, wenn du sie verkaufen willst«, antwortet Adrianna zögernd. »Lieber wäre mir allerdings, du würdest sie behalten.«

»Also wirklich. Ist das deine Vorstellung, wie du deine Zeit mit mir verbringen möchtest?«

»Wer wollte denn eine normale Ehe? So etwas gehört eben auch dazu«, wirft sie vorlaut ein, lächelt ihn aber gleich darauf schmeichelnd an. »Kannst du es dir nicht noch einmal überlegen? Das Geld brauchen wir doch nicht und irgendwie hänge ich an dem Apartment.«

»Ich denke darüber nach«, gibt er schmunzelnd zurück. »Wenn dein Herz daran hängt, dann behalten wir sie eben«, ergänzt er, bevor er ihr einen Kuss auf die Schläfe gibt. »An was hängt dein Herz noch?«

Seine Stimme klingt rau, als er das fragt. Gleichzeitig streichelt er sanft ihren Arm. In Adriannas Augen blitzt es auf. Sie kann sich denken, was er hören möchte. Ihre Antwort fällt allerdings so ganz anders aus, als es Siddharth erwartet.

»Essen! Und Kaffee! Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal etwas zu mir genommen habe.« Aus den Augenwinkeln bemerkt sie sein entsetztes Gesicht und macht sich lachend von ihm los.

»Du bist so romantisch, wie ein verrostetes Stück Stahl, Frau Raichand. Manchmal frage ich mich ernsthaft, welcher Teufel mich geritten hat, als ich mich in dich verliebt habe«, beschwert er sich lautstark, während er sich aufrichtet und die Beine aus dem Bett schwingt.

Adrianna krabbelt hinter ihn und legt die Arme um ihn. Mit verführerischer Stimme raunt sie in sein Ohr: »Ich bin eine Hexe. Ich habe dich mit meinem Liebreiz verzaubert, mi corazón.« Sie haucht sanft kleine Küsse neben sein Ohr, den Hals entlang, als er sich abrupt dreht. Mit einer geschickten Bewegung zieht er sie mit sich und stellt sie vor dem Bett ab.

»Wo ist ein Scheiterhaufen, wenn man ihn braucht? Womit habe ich verdient, einer Frau verfallen zu sein, die Essen mir vorzieht?«

»Ich setze nur Prioritäten«, erwidert sie schnippisch, schlingt aber gleich darauf ihre Arme um ihn und blickt mit einem koketten Augenaufschlag zu ihm auf. »Ich stärke mich nur für das unvergleichliche Dessert, das du mir danach servieren wirst.«

»Oh, bedaure, der Pâtissier hat gekündigt. Er fühlte sich vernachlässigt.«

»Hhmm … dann hole ich mir die Süßigkeiten eben woanders«, merkt sie schulterzuckend an. Adrianna will sich gerade von ihm lösen, als er sie an den Schultern packt.

»Untersteh dich!« Siddharth bereut es sofort, dass er sie so scharf angefahren hat. Seine Stimme klang ärgerlicher, als er es beabsichtigt hat. Weitaus sanfter zieht er sie wieder an sich und hält sie zärtlich fest.

Stirnrunzelnd blickt Adrianna ihn an. »Das war nur Spaß, das weißt du hoffentlich.«

»Ja … Ich … Es …« Ihre unbedachte Äußerung hat ihn an seine Befürchtungen erinnert. Obwohl er sicher ist, dass Omar seiner Frau nicht zu nahe getreten ist, muss er Gewissheit haben. »Als du bei Ammed warst … er hat davon gesprochen, dich in seinen Harem ... Also, ich meine … Hat er dich ...«

»Grundgütiger! Nein!«, antwortet Adrianna entsetzt. »Eher steige ich freiwillig auf einen Scheiterhaufen, als mich von ihm anfassen zu lassen. Was denkst du dir eigentlich? Ich bin verheiratet und ich nehme das sehr ernst.« Mit funkelnden Augen stemmt sie sich von seiner Brust. Obwohl sie noch immer aufgebracht ist, kann sie nicht anders, als ihn zärtlich anzulächeln, denn sein Gesichtsausdruck ist derart zerknirscht, dass ihr vor Liebe beinahe das Herz überquillt. »Ich liebe dich. Es wird niemals jemand anderen geben als dich, mi corazón.«

Siddharth zieht sie daraufhin so stürmisch an sich, dass ihr die Luft wegbleibt. Augenblicklich beginnt sich alles vor ihren Augen zu drehen. Gleichzeitig geben ihre Beine nach, was Siddharth mit Besorgnis registriert. Vorsichtig hebt er sie deshalb hoch, um sie aufs Bett zu legen.

»Chandni! Was ist mit dir? Du bist ganz blass. Bist du krank?«

»Ich habe Hunger«, gibt sie stöhnend zur Antwort, weil das Schwindelgefühl längst vorüber ist. Nur ein flaues Gefühl in der Magengegend ist noch übrig.

»Na dann, lass uns nach unten gehen. Neha zaubert dir bestimmt im Handumdrehen ein herrliches Gericht.«

»Sie würde die Beine in die Hand nehmen und schreiend davonlaufen, wenn ich so nach unten ginge«, erwidert Adrianna mit belustigtem Blick auf sich. »Es schickt sich nicht, gänzlich unbekleidet dem Personal gegenüberzutreten. Das solltest du wissen, Herr Raichand, oder herrschen in deinem Haushalt andere Sitten?«

»Scherzkeks«, erwidert Siddharth daraufhin kopfschüttelnd, bevor er zum Schrank geht, um für sich und Adrianna Kleidung herauszuholen. »Schaffst du es alleine, dich anzuziehen? Dann gehe ich schon einmal nach unten.«

 

Fröhlich vor sich hin summend betritt Adrianna wenig später die Küche, wo sie hört, wie Siddharth aufgebracht telefoniert.

»Auf gar keinen Fall. Ich werde mich dazu nicht äußern. Halt sie mir vom Leib und sorge dafür, dass mein Name herausgehalten wird. Schließlich bezahle ich dich dafür.« Verärgert legt er danach das Handy zur Seite und faltet die Zeitung zusammen.

»Gibt es Ärger?«, will sie wissen, als sie hinter ihn tritt und die Arme um seinen Hals legt. Er schnaubt aber nur kurz auf, bevor er knapp erwidert:

»Nichts, was uns den Tag verderben wird.« Mit einem Lächeln auf dem Gesicht dreht er den Kopf und küsst sie sanft. »Setz dich. Iss endlich etwas, bevor du noch ernsthaft krank wirst.«

Wie geheißen nimmt sie neben ihm Platz, schenkt sich eine Tasse Kaffee ein und atmet genüsslich das Aroma ein. Danach langt sie nach einer Scheibe Brot, die sie dick mit Honig bestreicht. Nachdem sie einige Bissen gemacht hat, blickt sie ihn herausfordernd an. »Also? Was versuchst du vor mir zu verheimlichen?«

»Wie bitte? Wie kommst du darauf? Ich verheimliche nichts.«

»Tust du nicht? Dann gib mir die Zeitung. Ich möchte gerne wissen, was sich ereignet hat.«

Bei der Erwähnung der Zeitung kneift er kurz die Lippen zusammen und schiebt sie weiter weg. Für einen Moment macht er ein schuldbewusstes Gesicht, das jedoch verschwunden ist, als er sich Adrianna wieder zuwendet.

»Steht nichts Interessantes drin«, erklärt er ausweichend. »Und damit der Tag so gemütlich bleibt, lassen wir uns durch nichts stören.« Mit diesen Worten steht er auf. Zuerst wirft er die Zeitung in den Müll, dann greift er nach seinem Handy, um es abzuschalten, als es klingelt. Beim Blick auf das Display zieht er ärgerlich die Stirn kraus und meldet sich äußerst ungehalten. »Was!«

Der Anrufer scheint sehr aufgeregt, weil Adrianna ihn hören kann, allerdings versteht sie kein Wort von dem, was er sagt. In diesem Moment klingelt ihr Handy, das noch immer auf dem Tischchen in der Eingangshalle liegt. Im Hinausgehen hört sie Siddharth schimpfen:

»Verflucht! Nein! Ich nehme keine Stellung dazu, das sagte ich bereits ...«

Adrianna will gerade das Gespräch auf ihrem Handy annehmen, als Siddharth es ihr aus der Hand nimmt und abschaltet. »Der Tag gehört uns. Heute sind wir für niemanden erreichbar«, sagt er schmeichelnd. Das Telefon legt er zurück auf den Tisch.

Misstrauisch mustert sie ihn. Irgendetwas versucht er zu verbergen. Bevor sie aber ihre Gedanken in Worte fassen kann, zieht er sie zärtlich an sich. Ihr stockt der Atem beim Blick in seine dunkel verhangenen Augen. Ganz sanft streicht er an ihrem Rücken nach oben und vergräbt die Hand in ihrem Haar. Im selben Augenblick vergisst sie ihn zu fragen, warum er sich so seltsam verhält. Seine Nähe wischt jeden Argwohn beiseite. Sie kann an nichts anderes mehr denken als an das, was sein verheißungsvoller Blick verspricht.

Entgegen ihrer Erwartung küsst Siddharth sie jedoch nicht, sondern tastet nach ihrer Hand und zieht sie hinter sich her zur Haustür. Dort bleibt er kurz stehen, um sie zu öffnen. Mit rauer Stimme raunt er ihr zu: »Wir gehen zum See. Dort stört uns bestimmt niemand.«

Auf dem Weg dorthin blickt Adrianna immer wieder zu Siddharth, dessen Miene verschlossen ist. Er grübelt über etwas nach, das ihm ganz offensichtlich sehr zu schaffen macht. Die Ader, die deutlich auf seiner Stirn hervortritt, ist ein untrügliches Zeichen dafür. Ein paar Mal hat es den Anschein, als wolle er etwas sagen, er schweigt aber dann doch.

‘Verdammt! Ich wusste, dass es ein Fehler war. Wie soll ich ihr das erklären. Aber vielleicht habe ich Glück und die Presse bauscht das Ganze nicht weiter auf. Dann muss sie gar nichts davon erfahren.’ Siddharth ist tief in Gedanken versunken. Aus diesem Grund hört er Adrianna nicht, sondern blickt verwundert auf, als sie abrupt stehen bleibt.

»Kannst du mir bitte erklären, was mit dir los ist? Du verhältst dich äußerst merkwürdig, mi corazón. Ich darf keine Zeitung lesen. Du nimmst mir das Handy weg, obendrein schleppst du mich aus dem Haus. Sag mir, was los ist. Früher oder später bekomme ich es ja doch heraus.«

Für einen Moment huscht ein schuldbewusster Ausdruck über sein Gesicht. Statt ihr aber eine Antwort zu geben, zieht er sie an sich und reibt seine Wange zärtlich an ihrer. »Das ist unser Tag. Er gehört nur uns alleine, hörst du? Ich will dich nicht teilen. Weder mit überflüssigen Klatschgeschichten, noch mit irgendwelchen Anrufern«, flüstert er ihr ins Ohr.

»Als ob mich Klatschgeschichten jemals interessiert hätten. Außerdem hast du gerade selbst noch telefoniert«, wirft ihm Adrianna belustigt vor. Ehe sie jedoch zu einem weiteren Tadel ansetzen kann, hält sie zischend den Atem an. Siddharth küsst die empfindliche Stelle unter ihrem Ohr. Mit seinen Lippen zieht er eine heiße Spur halsabwärts und versetzt ihre Sinne in hellen Aufruhr.

Aufstöhnend legt sie die Arme um Siddharths Taille und lässt den Kopf nach hinten sinken.

»Dad!«, erklingt es auf einmal aus der Ferne.

Siddharth richtet sich enttäuscht auf, dreht sich dann aber in die Richtung, aus welcher der Ruf kam. Adrianna schüttelt den Kopf und hängt sich bei ihm ein. »Zieh nicht so ein Gesicht. Es sind deine Söhne. Sei dankbar, dass du sie so häufig siehst«, raunt sie ihm zu, während sie gemeinsam mit ihm den Jungs und Sameena entgegengeht.

Nach einer stürmischen Begrüßung, in der Sahil und Sachin ihren Vater beinahe zu Boden reißen, fragt Sahil aufgeregt: »Dürfen wir ins Wasser? Es ist so warm, bitte!«

Adrianna wartet auf Sameenas Erlaubnis. Erst dann läuft sie mit den Kindern zum See, während Sameena mit Siddharth zurückbleibt.

»Erzähl mir von Nanda«, eröffnet sie ohne Umschweife.

»Da gibt es nichts zu erzählen.«

»Tatsächlich? Weiß AJ davon?«

»Nein! Das muss sie auch nicht. Misch dich da nicht ein. Das geht dich nichts an.«

»Du bist verrückt, wenn du annimmst, du könntest es vor ihr verheimlichen. Außerdem irrst du dich. Es geht mich durchaus etwas an, weil es ebenso deine Söhne betrifft.« Mit diesen Worten eilt sie davon, Siddharth läuft ihr allerdings hinterher.

»Sameena, bitte. Ich regle das. Sag bitte nichts zu Adrianna.«

Sie bleibt daraufhin stehen und dreht sich langsam zu ihm. Mit vorwurfsvollem Blick betrachtet sie ihn. »Selbst wenn es sich nur um Gerüchte handelt, solltest du es ihr erzählen. Es ist schrecklich, davon durch die Zeitung zu erfahren. Wenn auch nur ein Funken Wahrheit dahinter steckt, werden die Reporter über euch herfallen wie Heuschrecken. Tu ihr das nicht an. Rede mit AJ. Je eher, desto besser.«

Sein Blick wandert zum See, wo Adrianna ausgelassen mit Sahil und Sachin im Wasser tobt. Sein Jüngster steht am Rand, weil er noch nicht schwimmen kann. Er wirft den beiden einen Schwimmreifen zu, den sie in einer Art Wettstreit zurückbringen müssen.

»Ich mag sie sehr Sidhu. Sie ist wie eine Schwester. Sprich mit ihr, sonst tue ich es«, warnt ihn Sameena, bevor sie zu Adrianna und ihren Söhnen geht.

»Ein schönes Bild. Das sollte durch die Medien gehen, findest du nicht? Adrianna geht erstaunlich gelassen mit den neuesten Nachrichten um«, ertönt es hinter ihm.

»Mama?«, ruft Siddharth erstaunt aus, als er sich umdreht. Gleichzeitig sieht er sich nach seinem Vater um, der jedoch nirgends zu sehen ist. »Schön, dich zu sehen. Wo ist Papa?«

»Er hat viel zu tun, aber er lässt dich grüßen.«

Siddharth zieht zweifelnd die Brauen in die Höhe. »Ist das so? Er hat doch bestimmt die Zeitung gelesen und ist stinksauer deswegen.«

»Du kennst ihn doch. Er beruhigt sich auch wieder. Sag, was ist dran an der Geschichte? Kennst du die Frau überhaupt?«

»Ja«, antwortet er gedehnt. »Ich bin ihr vor ungefähr einem Jahr begegnet, aber ich kann mich nicht wirklich an sie erinnern.«

»Was hat Adrianna dazu gesagt?«

»Nichts. Sie weiß nichts davon.«

»Sidhu! Das ist nicht dein Ernst!«, tadelt ihn Naina laut. »Du musst es ihr sagen. Und zwar jetzt gleich. Nach deiner Scheidung von Sameena und der anschließenden Hochzeit lechzen die Paparazzi geradezu danach, dir einen Skandal ans Bein zu binden. Adrianna sollte wissen, was da vor sich geht. Lass sie nicht blind ins Messer laufen.«

»Oh, du nicht auch noch. Könnt ihr uns nicht einfach in Ruhe lassen? Ich habe Leute, die sich darum kümmern. Sie werden dafür sorgen, dass es zu keinem Skandal kommt. Adrianna muss also gar nichts wissen. Ich will sie nicht unnötig belasten.«

Mit diesen Worten stürmt er davon und lässt seine Mutter einfach stehen. Als er allerdings zum See kommt, bleibt er schockiert stehen. Adrianna steht in Unterwäsche im Wasser, nicht wie von ihm angenommen, in einem schwarzen Bikini. Aus reinem Reflex schnellt sein Kopf in alle erdenklichen Richtungen, um zu prüfen, ob irgendwo ein Objektiv auf diese Szene gerichtet ist.

Obwohl dem nicht so ist, hetzt er weiter zu der kleinen Hütte am Ufer, wo immer ein paar Badetücher bereitliegen. Als er damit bewaffnet ans Wasser tritt, rasen seine Söhne kreischend an ihm vorbei. Sie haben ihre Großmutter entdeckt, die sie freudig begrüßen. Auch Sameena läuft ihrer Ex-Schwiegermutter entgegen. Adrianna steigt mit strahlendem Gesicht ebenfalls aus dem See.

Eigentlich hatte Siddharth vor, sie ob ihrer unschicklichen Aufmachung zurechtzuweisen, ihr Anblick lässt ihn jedoch seine Tirade vergessen. ‘Sie sieht aus wie eine Meerjungfrau, die gerade dem Wasser entstiegen ist’, schießt es ihm unwillkürlich durch den Kopf und er spürt im selben Augenblick, wie ihm nicht nur der Hals eng wird. Das Badetuch von sich gestreckt wartet er, bis sie bei ihm ist, um sie darin einzuwickeln. Sie lässt sich aber unnötig viel Zeit dafür, was ihm im Grunde genommen gefällt, allerdings wird ihm bewusst, dass er nicht mit ihr alleine ist, denn er hört seine Söhne, die angelaufen kommen.

»Dad, Oma geht mit uns Eis essen. Kommt ihr mit?«, ruft Sahil ganz außer Atem. Sameena entbindet Siddharth allerdings einer Antwort.

»Heute nicht, Liebling. Dein Dad und Adrianna haben noch etwas vor.« Ihren Blick richtet sie dabei herausfordernd an Siddharth, der sich, immer noch benommen von Adriannas Anblick, verlegen räuspert.

Sahil macht ein betrübtes Gesicht, wendet sich dann aber strahlend an Adrianna. »Dürfen wir wiederkommen? Das nächste Mal schlage ich dich. Ich werde den Reifen öfter zu fassen bekommen als du.«

»Aber natürlich dürft ihr kommen. Ich freue mich. Viel Spaß beim Eis essen.«

Der Junge winkt ihnen im Weglaufen zu. Seine Mutter folgt ihm nach einem weiteren eindringlichen Blick auf Siddharth.

»Sagst du mir jetzt, was los ist? Deine Mutter und Sameena wirkten ziemlich aufgebracht.«

Siddharth schluckt, ehe er Adrianna eine Antwort gibt. Während er sie in das Badetuch einwickelt, meidet er allerdings ihren Blick. »Du stehst hier praktisch nackt. So etwas geht nicht, Adrianna. Selbst hier auf dem Grundstück müssen wir immer mit Reportern rechnen. Niemand, außer mir, soll dich in solch aufregenden Dessous sehen.«

»Das ist doch kein Grund, so ein Aufhebens darum zu machen. Ein Bikini bedeckt nicht mehr als das hier«, erwidert sie kopfschüttelnd und lässt dabei das Badetuch fallen.

Gebannt starrt er seine Frau an, als sie erneut mit nichts als einem knappen Höschen und einem aufreizenden BH vor ihm steht. Aus ihrem Haar fallen einzelne Wassertropfen auf ihre Schultern, die sich den Weg nach unten bahnen und zwischen ihren Brüsten in dem Wäschestück verschwinden, um gleich darauf darunter wieder zum Vorschein zu kommen. Mit trockenem Mund verfolgt er die Tropfen, die sich unaufhaltsam über ihren Bauch bewegen, hinab zu dem winzigen Stück Stoff, das ihre Scham bedeckt.

Als die ersten Tropfen hinter dem mit Spitze besetzten Saum verschwinden, ist es um Siddharths Beherrschung geschehen. Die Hände auf ihren Hüften zieht er sie an sich und gleitet dann mit den Daumen sanft über ihren Bauch nach oben, um die Wassertropfen aufzuhalten.

Ihre Haut, noch kalt von dem Bad im See, fühlt sich weich an. Obwohl die Sonne warm über ihren Körper streicht, kann er spüren, dass sie zittert. Ihre Augen sind zärtlich auf ihn gerichtet und ihr verlockender Mund ist halb geöffnet. Unfähig, der Versuchung länger zu widerstehen, senkt er langsam den Kopf und berührt sanft ihre Lippen.

Schauer, einem Funkenregen gleich, jagen durch seinen Körper. Eine Woge der Erregung erfasst ihn, droht ihn mitzureißen. Allein dieser Kuss bringt sein Blut derart in Wallung, dass er kaum an sich halten kann, sie nicht augenblicklich, hier und jetzt auf den Gipfel der Lust zu entführen. Doch die Leidenschaft, mit der sie seinen Kuss erwidert, sich an ihn presst, sprengt die Ketten der Vernunft und atemlos vor Verlangen sinkt er mit ihr zu Boden. Außerstande, das Feuer der Begierde zu bändigen, vergisst er alles um sich. Nur noch sie zählt. Adrianna. Alles in ihm drängt nach ihr, lechzt nach Erfüllung. Ihre Laute der Verzückung setzen seinen Verstand außer Kraft. Wie im Fieber entfernt er die hinderlichen Kleidungsstücke. Nichts vermag ihn jetzt noch aufzuhalten. Die Hingabe, mit der sie ihn empfängt, überwältigt ihn. Er verliert sich in ihr, treibt sie an, folgt ihr in ungeahnte Höhen, reißt sie mit sich. Immer höher führt er sie hinauf, dem Höhepunkt entgegen, der sich wie eine Urgewalt entlädt und das letzte Band zerreißt. Ihre Lustschreie erstickt er mit einem inbrünstigen Kuss, bis sie beide, erschöpft doch zutiefst befriedigt, aus dem Reich der Sinne zurückkehren.

Nach Atem ringend rollt sich Siddharth von ihr. Er zieht sie mit sich und bettet ihren Kopf auf seiner Brust. »Gott, Adrianna, was machst du nur mit mir. Du bist wirklich eine Hexe. Ich bin Wachs in deinen Händen.« Mit der anderen Hand fischt er nach dem Badetuch, um sie damit zu bedecken.

Adrianna, noch viel zu aufgewühlt von dem berauschenden Liebesspiel, schmiegt sich an ihn. Tränen des Glücks tropfen auf Siddharths Brust und voller Sorge hebt er ihr Gesicht an. »Ich liebe dich«, flüstert er ihr zärtlich zu, während er sie an sich zieht, um die Tränen von ihren Wangen zu küssen.

Eine Weile genießen sie die Zweisamkeit, in der es nur sie beide gibt. Sie liegen glücklich im Gras und beobachten die Sonne, die langsam hinter den Baumwipfeln verschwindet und dem kühlen Nachthimmel Platz macht.

Ohne dass sie sein Näherkommen bemerkt haben, hören sie Kabirs Stimme. »Verzeihen Sie. Neha lässt ausrichten, dass das Abendessen in einer Stunde serviert werden könnte, wenn Sie beabsichtigen, zu Hause zu bleiben. Außerdem hat Frau Verma angerufen. Sie bittet Sie morgen zu sich, da sie Mumbai am Abend verlässt, um nach Delhi zurückzukehren.«

»Hunger?«, fragt Siddharth seine Frau belustigt, weil er bereits ein zustimmendes Nicken auf Kabirs Frage von ihr registriert hat.

»Und wie. Mir ist, als hätte ich ein Loch im Bauch, das so groß ist, dass das Taj Mahal darin Platz hätte.«

»Wir kommen gleich«, wendet er sich daraufhin an den Mann, der sich lautlos zurückzieht. Nur widerstrebend stehen Adrianna und Siddharth danach auf, um sich anzuziehen und schlendern anschließend eng umschlungen zurück zum Haus.

Nach einem köstlichen Dinner ziehen sie sich ins Wohnzimmer zurück. Bevor sich Adrianna zu Siddharth auf das Sofa setzt, bleibt sie an der Tür stehen und blickt ihn herausfordernd an. »Wir könnten ins Kino fahren und uns einen Film ansehen.«

Siddharth verzieht aber das Gesicht. »Das können wir hier auch. Lass uns zu Hause bleiben. Ich habe jetzt keine Lust, mich ins Getümmel zu stürzen.« Während er es sich bequem macht, streckt er den Arm nach Adrianna aus. »Außerdem müssen wir nicht alles an einem Tag nachholen«, ergänzt er schmunzelnd.

Mit einem Seufzer der Erleichterung setzt sie sich ebenfalls auf die Couch und schmiegt sich an ihn. »Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest. Eigentlich bin ich auch viel zu müde dafür. Ein gemütlicher Abend zu Hause mit dir ist mir ohnehin lieber … War das nicht auch ein Punkt auf deiner Liste?«

»Ganz recht, aber er ist dadurch nicht abgehakt. Ich wünsche mir viele dieser Abende mit dir, mein Herz.«

»Und ich wünsche mir nicht nur die Abende. Der Tag war wundervoll. Ich hätte durchaus nichts dagegen, solche Tage häufiger mit dir zu verbringen.«

»Ich freue mich, das zu hören. Du gibst dir redlich Mühe, Frau Raichand. Ich werde dafür sorgen, dass sich solche Gelegenheiten öfter ergeben. Vielleicht möchtest du mich auch zu Dreharbeiten begleiten. Dann könnten wir mehr Zeit miteinander verbringen.«

Er blickt auf Adrianna, die bereits eingeschlafen ist. Eine Weile betrachtet er sie im Schlaf. ‘Ich wünschte, wir könnten uns vor der Welt verstecken. Oder zumindest vor der Presse. Sie sollen uns in Ruhe lassen. Unser Privatleben geht niemanden etwas an.’

Bei dem Gedanken an die heutigen Presseberichte verzieht er ärgerlich das Gesicht. Vorsichtig, um Adrianna nicht zu wecken, steht er auf. Er will mit seinem Agenten telefonieren, um zu erfahren, ob dieser erreicht hat, dass keine weiteren Artikel mehr verfasst werden. Wenige Minuten später kehrt er wütend, weil Anu nicht ans Telefon gegangen ist, ins Wohnzimmer zurück.

Adrianna schläft noch immer, deshalb steckt er das Handy ein und trägt sie nach oben ins Schlafzimmer. Auch als er ihr das Kleid abstreift, wacht sie nicht auf. »Ich liebe dich, Chandni«, flüstert er, bevor er das Licht löscht und sich zu ihr legt.

Kapitel 3 – Eden

Als Adrianna wenig später aufwacht, überlegt sie zunächst verwirrt, was sie geweckt hat. Das Bett neben ihr ist leer, obwohl es noch dunkel ist, aber im Badezimmer brennt Licht. Dann hört sie plötzlich ihren Mann sprechen.

»... wissen, ob du die Wahrheit sagst? Du denkst doch nicht, dass ich dir so einfach glaube, dass ich eine Tochter habe? ... Wenn ich wirklich ... Das behauptest du ... Wenn ich ... Würdest du mich bitte aussprechen lassen? ... Ich komme zu dir. ... In den nächsten Tagen.«

Adrianna stockt der Atem, als sie dem Gespräch lauscht. ‚Er hat eine Tochter? Seit wann? Wer war das am Telefon?‘ Sie kann jetzt nicht neben ihrem Mann liegen und so tun, als hätte sie nichts mitbekommen. Lautlos huscht sie aus dem Schlafzimmer, um nach unten in die Küche zu laufen.

Sie füllt gerade ein Glas mit Wasser, als Siddharth hinter ihr steht. »Kannst du nicht schlafen?«, fragt er sie leise, während er die Arme um sie legt.

Adrianna hingegen murmelt undeutlich: »Ich hatte nur Durst.« Sie trinkt rasch das Glas leer und befreit sich aus seiner Umarmung. »Ich bin müde«, sagt sie noch matt, bevor sie wieder nach oben eilt.

Siddharth blickt ihr nachdenklich hinterher. Er macht sich Gedanken über ihr seltsames Verhalten, als er ihr langsam folgt. ‘Nach den letzten Tagen muss sie völlig übermüdet sein.’ Dass sie ihn gehört haben könnte, kommt ihm gar nicht in den Sinn, deshalb schlüpft er zu ihr ins Bett und schmiegt sich an sie.

Adrianna bleibt ganz ruhig liegen, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlägt. ‚Oh Gott, ich liebe ihn so sehr. Hat er seine Meinung geändert und wünscht sich jetzt doch noch weitere Kinder, die ich ihm nicht schenken kann?’ An seinen gleichmäßigen Atemzügen erkennt sie, dass er eingeschlafen ist. Sie liegt noch lange wach, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, bis sie irgendwann in einen unruhigen Schlaf fällt.

Es ist spät, als Adrianna am nächsten Morgen erwacht. Sie fühlt sich ohnehin schon elend, und auf dem Weg ins Badezimmer wird ihr auch noch derart schwindlig, dass sie sich am Türrahmen festhalten muss, während sich alles sich um sie herum zu drehen beginnt. Doch so unerwartet, wie das Schwindelgefühl gekommen ist, so schnell vergeht es auch wieder. Ihre Beine hingegen zittern noch, deshalb geht sie vorsichtig zum Waschbecken.

Eine Zeit lang lässt sie kaltes Wasser über ihre Arme laufen und atmet tief durch. Obwohl in ihrem Kopf immer noch totales Durcheinander herrscht, fühlt sie sich langsam besser. Mit hängenden Schultern steigt sie unter die Dusche, aber auch das weckt ihre Lebensgeister nicht. Zornig beobachtet sie sich beim Zähneputzen, wählt anschließend achtlos einige Kleidungsstücke aus und zieht sich an. Gedankenverloren geht sie nach unten in die Küche. Sie hofft, dass eine Tasse Kaffee sie endlich etwas aufmuntern wird.

Adrianna sitzt bereits an ihrem Tisch und nippt am Kaffee, als Neha eintritt.

»Ihr Mann ist heute Morgen in die Stadt gefahren. Er versucht, bis zum Mittag wieder hier zu sein«, erklärt die Frau, während Adrianna die Zeitung heranzieht. Statt einer Antwort nickt sie nur kurz und starrt stattdessen auf die Schlagzeile.

 

Nanda Shankar: Ich kämpfe um Siddharth, den Vater meiner Tochter

 

Wie ferngesteuert klappt sie augenblicklich die Zeitung zu. Sie eilt hinaus, um in den Keller, in den Spiegelsaal, zu gehen. ‚Ich will nicht denken. Ich habe es ihm versprochen, zuerst mit ihm zu sprechen. Bitte lass mich nicht denken.'

Die Musik, die sie ausgesucht hat, erklingt, aber Adrianna hat heute keine Freude am Tanzen. Sie setzt sich nur vor einen der Spiegel und lauscht der Melodie, ohne sie tatsächlich zu hören. Auch ihre innere Unruhe will nicht weichen. Außerdem sollte Siddharth bald zurückkommen, darum beschließt sie, oben auf ihn zu warten.

Die Haustür geht in dem Moment auf, als Adrianna gerade oben ankommt. Siddharth bleibt jedoch abwartend in der Tür stehen, ohne sie wirklich anzusehen. »Bist du fertig?«, fragt er ungeduldig. »Tanya wartet bestimmt schon.«

»Warte!«, ruft sie ihm hinterher, weil er sich abwendet und bereits wieder hinaus geht.

Siddharth hingegen blickt nur kurz über die Schulter zurück. »Komm jetzt. Wir reden später.«

Erst draußen dreht er sich um und blickt ihr entgegen, sie aber geht steif an ihm vorbei und steigt ins Auto.

Das Schweigen während der Fahrt ist erdrückend. Siddharth konzentriert sich auf den Verkehr, während Adrianna blicklos aus dem Fenster starrt, doch nach einer Weile hält sie es nicht mehr aus.

»Ist es wahr?«, fragt sie vorsichtig und dreht sich zu ihm, damit sie ihn ansehen kann. Die Knöchel an seinen Händen treten weiß hervor, so fest hält er das Lenkrad umklammert. Adrianna kann beinahe hören, wie er mit den Zähnen knirscht.

Bevor er ihr antwortet, stößt er laut den Atem aus. »Was denkst du?«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Seit wann weißt du davon. Ist das der Grund, warum du dich gestern so seltsam verhalten hast?«, entgegnet sie aufgebracht, eine Antwort bleibt er ihr allerdings schuldig. Offensichtlich will er nicht mir ihr darüber sprechen, was ihr aber in diesem Moment egal ist. Deshalb schluckt sie die aufsteigenden Tränen hinunter, ehe sie weiterspricht. »Erkläre es mir. Wenn sie tatsächlich deine Tochter ist, dann hat diese Frau das Recht, um den Vater zu kämpfen.«

»Wenn sie meine Tochter ist«, stößt er zornig hervor, woraufhin sie ihn eine Weile betrachtet.

»Aber es ist möglich, oder?«, hakt sie unsicher nach, wobei sie inständig hofft, dass die Schlagzeile nur eine Lüge ist.

»Ja, ist es«, gibt er grimmig zurück. »Ich habe mit ihr geschlafen. Und ich bin nicht stolz darauf!«

Seine Worte dreschen wie Peitschenhiebe auf sie ein. Der Schmerz, dass eine andere Frau ihm das gibt, wozu sie nicht imstande ist, lässt sie zitternd einatmen.

»Wirst du einen Vaterschaftstest machen?«, fragt sie ihn leise, womit sie sich an die letzte Hoffnung klammert, dass dieses Mädchen doch nicht seine Tochter ist. Sie sieht ihn dabei unsicher an und legt zaghaft ihre Hand auf seinen Arm.

»Nein«, antwortet er schroff, gleichzeitig zieht er seinen Arm zurück.

»Nein?«, wiederholt sie entsetzt. »Was soll das heißen, nein? Was wirst du tun?« Adrianna starrt ihn fassungslos an, denn er ist offenbar überzeugt davon, dass das Baby von ihm ist.

Diese Frage lässt er unbeantwortet, obwohl er genau weiß, dass sie das auf die Palme bringt. Stattdessen brummt er: »Wir reden später.«

Da sie mittlerweile am Ziel ihrer Fahrt angelangt sind, parkt Siddharth den Wagen vor Tanyas Hotel. Ohne ein Wort steigt er aus, doch anders als sonst ist er ihr nicht beim Aussteigen behilflich, sondern bleibt einfach stehen.

»Das ist doch nicht dein Ernst«, erwidert Adrianna nun zornig. Außer sich verlässt sie ebenfalls das Auto. »Rede jetzt mit mir! Ich kann jetzt nicht da rein gehen und so tun, als wäre die Welt rosarot.« Sie läuft dabei um den Wagen herum und stellt sich vor ihren Mann, der ungeduldig mit dem Kopf schüttelt.

»Nicht jetzt, Adrianna«, entgegnet er scharf. »Lass uns nachher darüber sprechen. Ich muss ... Später.« Mit den letzten Worten deutet er in Richtung Hoteleingang, was einer Aufforderung gleichkommt, dass sie vorangehen soll.

Sie stößt einen kurzen zornigen Laut aus, bevor sie sich kopfschüttelnd umdreht. »Du tust es schon wieder, obwohl du genau weißt, dass ich das nicht ausstehen kann. Aber gut, ich werde mir Tanyas Vision anhören. Dann aber, mein Lieber, wirst du mit mir sprechen.«

Wütend läuft sie vor ihm her. An der Rezeption säuselt sie trotz allem liebenswürdig: »Melden Sie uns bitte bei Frau Verma an«, und dreht sich anschließend zu ihrem Mann um, der aber nicht mehr hinter ihr steht.

Verwirrt blickt sie sich nach ihm um, kann ihn allerdings nirgends entdecken. Sie ist schon auf dem Weg nach draußen, als ihr ein Page entgegenkommt, der sie zu Tanya führen möchte. Adrianna hingegen bittet ihn, einen Moment zu warten, und wirft einen Blick vor das Hotel.

Der Anblick, der sich ihr bietet, treibt ihr eiskalten Schweiß auf die Stirn. Ihr wird derart übel, dass sie sich panisch nach einem Waschraum umsieht. Sie schafft es gerade noch in eine Kabine, um sich zu übergeben. Danach sinkt sie erschöpft gegen die Wand und schließt die Augen.

Das hilft ihr allerdings auch nicht, denn sie sieht nur wieder, was sich kurz zuvor vor dem Hotel ereignet hat. Kraftlos schleppt sich Adrianna an ein Waschbecken, wo sie sich kaltes Wasser über ihre Arme laufen lässt. Anschließend wäscht sie sich noch Mund und Gesicht, dann starrt sie mit leerem Blick in den Spiegel. Doch alles, was sie sieht, ist genau jene Szene, die sie soeben vor dem Hotel beobachtet hat.

Siddharth hielt ein kleines Mädchen in seinen Armen. Eine fremde Frau, vermutlich die Mutter des Kindes, stand, einen Arm um seine Taille gelegt, neben ihm. Er hat die Kleine zärtlich geküsst und an sich gedrückt.

Dieses Bild einer kleinen glücklichen Familie und der erfreute Gesichtsausdruck Siddharths brennt in Adriannas Augen. Gleichzeitig treibt es einen Pfahl in ihr Herz, der sie vor Kälte erschauern lässt. ‘Er hat gesagt, er wolle keine Kinder mehr. Offenbar hat er seine Meinung geändert’, spottet die Stimme in ihr. ‚Kannst du es ertragen, die andere Frau in seiner Nähe zu wissen? Sie kann ihm vielleicht noch weitere Babys schenken?

Matt und niedergeschlagen lässt Adrianna die Stirn gegen den Spiegel sinken, wobei sie langsam den Kopf schüttelt. Gleich darauf strafft sie aber energisch die Schultern. Fast grimmig blickt sie ihrem Spiegelbild entgegen, als es erneut höhnisch in ihr hallt: ‘Du hast doch gewusst, dass er noch Kinder will. Natürlich ist er glücklich darüber.’ »Aber es sollte mein Baby sein! Nicht so ein Bast ...« Zutiefst entsetzt schlägt sie die Hand vor den Mund. Angewidert von sich selbst, weil sie zu so einem Gedanken überhaupt fähig ist, wendet sie sich vom Spiegel ab. »Ich muss hier raus«, keucht sie auf und verlässt eilig den Waschraum.

Tanya kommt ihr in dem Moment entgegen, als Adrianna wieder in die Lobby tritt. »Geht es Ihnen nicht gut?«, fragt diese besorgt. »Sie sind bleich wie eine Wand.« Fürsorglich legt sie einen Arm um Adrianna und führt sie durch die Lobby. Gleichzeitig frag sie: »Wo ist Sidhu überhaupt? Er ist doch mitgekommen?«

Das Gespräch hat Adrianna völlig vergessen. Sie kann jetzt auf keinen Fall mit Tanya sprechen. Zuerst muss sie sich beruhigen. Um den Redeschwall Tanyas zu unterbrechen, legt sie eine Hand auf deren Arm. »Bitte, Tanya, mir geht es wirklich nicht sehr gut. Wir müssen das Gespräch verschieben.« Zugleich winkt sie einen Pagen herbei, den sie um ein Taxi bittet.

Der junge Mann deutet mit einer dezenten Verbeugung zum Eingang. »Es stehen immer welche vor dem Hotel, Frau Raichand.«

Ohne viel Worte verabschiedet sie sich von Tanya, bevor sie nach draußen eilt. Die Frau blickt ihr enttäuscht hinterher, doch Adrianna steigt, ohne sich noch einmal umzudrehen, in einen Wagen.

Die Fahrt dauert allerdings nicht lange, denn das Taxi muss stark abbremsen. Erschrocken erkennt Adrianna ihren Mann, der auf das Auto zustürmt und bebend vor Zorn die Wagentür aufreißt. Er greift nach ihrem Arm, woraufhin sie ihn ebenso wütend anstarrt, dennoch steigt sie aus.

»Was soll denn das?«, herrscht er sie hitzig an. »Warum fährst du einfach davon?«

Adrianna entzieht ihm ihren Arm, wobei sie nicht minder heftig erwidert: »Ich habe dir gesagt, dass ich jetzt nicht mit Tanya sprechen will. Du offensichtlich auch nicht, denn ich habe dich gesehen. Und nun lass mich fahren. Ich will jetzt nicht mit dir reden.«

Sie will sich umdrehen, Siddharth packt sie jedoch an der Schulter. »Ich fahre dich! Steig ein.«

So wie er sie ansieht, hat Adrianna keine andere Wahl. Er kocht vor Wut, nur deshalb steigt sie in seinen Wagen, während er dem Fahrer des Taxis ein paar Rupien reicht.

Siddharth folgt ihr und setzt sich hinter das Steuer. Statt den Motor zu starten, bleibt er reglos sitzen. »Was hast du vor, Adrianna?« Seine Stimme klingt, obwohl er sich bemüht das zu unterdrücken, immer noch aufgebracht.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortet sie, während sie sich mit beiden Händen an die Schläfen fasst. »In meinem Kopf dreht sich alles. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen.« Sie schließt die Augen, doch im selben Moment sieht sie wieder ihren Mann mit dem Baby auf dem Arm, deshalb seufzt sie auf und dreht sich zu ihm. »Wirst du wieder nach London fliegen?«

Eine Antwort darauf bleibt er ihr schuldig. Stattdessen blickt er mit zusammengepressten Lippen stur nach vorne.

»Das dachte ich mir. Da Carmen noch einige Zeit hier bleiben wird, muss sich jemand um die Tanzschule kümmern. Ich werde nach Deutschland reisen.«

Nun blickt sie demonstrativ nach draußen und drückt sich tief in den Sitz. Dass er ihre Frage nicht beantwortet hat, bestätigt ihre Annahme, dass er sich wieder mit dieser Frau treffen wird. Fast gleichzeitig taucht erneut dieses Bild vor ihr auf, als er glücklich lächelnd das Mädchen im Arm hielt. Der Schmerz darüber legt sich wie ein stählernes Band um ihre Brust, droht sie fast zu ersticken und sie spürt die aufsteigenden Tränen. Mit aller Macht kämpft sie dagegen an, denn sie will ihm auf keinen Fall zeigen, wie sehr er sie verletzt hat.

Siddharth startet unterdessen den Motor und, obwohl noch so vieles ungesagt ist, sprechen sie während der Heimfahrt kein weiteres Wort.

Da Adrianna befürchtet, in Siddharths Gegenwart schwach zu werden, möchte sie zu Hause gleich nach oben gehen, doch er hält sie zurück.

Lange blickt er sie an, bevor er sanft zu ihr sagt: »Ich will es dir erklären.«

Als er sie ins Wohnzimmer führt, schließt sie tief durchatmend die Augen. Auf die Erklärung ist sie natürlich gespannt, andererseits hat er ihr ja bereits gesagt, dass er mit Nanda geschlafen hat, was jede weitere Erklärung überflüssig macht. Dennoch setzt sie sich neben ihn auf das Sofa.

»Ich habe mit Nanda geschlafen, das bestreite ich gar nicht, aber ich kann dir nicht sagen, warum. Ich habe auch gar keine Ahnung, wann genau das eigentlich war. Es interessiert mich auch nicht. Das hat nichts bedeutet. Es war nur Sex. Es kann also durchaus sein, dass Shanti meine Tochter ist.«

Adrianna senkt den Kopf, verdrängt die neu aufsteigenden Tränen. Es ist also wahr, er hatte tatsächlich ein Verhältnis mit dieser Frau. Nach dem, was in der Zeitung steht, ist Shanti zwei Monate alt, demzufolge war er mit ihr zusammen, als Adrianna nach der Europa-Tournee nach Mumbai gekommen ist. Er hatte sich zwar damals von ihr getrennt, aber dennoch trifft es sie hart, dass er sich so schnell mit einer anderen vergnügt hat.

Siddharth bemerkt ihren inneren Aufruhr nicht. Allerdings klingt er nervös, als er weiterspricht. »Ich habe dir gesagt, dass ich keine Kinder mehr will. Sahil und Sachin sind meine Söhne. Das genügt. Shanti ist ein bedauerlicher Unfall. Daran lässt sich nun einmal nichts mehr ändern.«

Nervös fährt er sich durchs Haar. Er kann seiner Frau nicht in die Augen sehen und steht deshalb auf. »Was wird sie von mir denken, wenn ich jetzt einen Vaterschaftstest mache und sie damit verleugne?« Rastlos geht er hin und her und bleibt dann vor dem Fenster stehen. »Wenn sie meine Tochter ist, dann will ich ihr ein Vater sein.«

‚Oh Gott, ich verliere ihn‘, durchfährt es sie wie ein Blitz, der sie fast niederstreckt, trotzdem kämpft sie erneut gegen die Tränen an. ‚Wie soll es jetzt weitergehen? Wie sieht unsere Zukunft aus? Haben wir eine Zukunft? Gibt es überhaupt noch ein wir? Ein uns?’

Verzweifelt erhebt sie sich, und während sie das Zimmer verlässt, sagt sie leise: »Gut, finde heraus, ob sie deine Tochter ist. Ich muss auch einige Dinge für mich herausfinden.« Siddharth scheint sie nicht zu hören. Er starrt weiterhin blicklos aus dem Fenster.

Niedergeschlagen macht sich Adrianna auf den Weg in die Küche. ‚Ich brauche dringend eine gute Tasse Kaffee. Vielleicht kann ich dann klarer denken’, überlegt sie, als sie dort eintritt. Gierig atmet sie das köstliche Aroma ein und schließt automatisch für einen Augenblick die Augen.

Padma, die an der Spüle steht, begrüßt sie freundlich. »Namaste, Frau Raichand. Kaffee?«

»Namaste. Danke, Padma, gerne«, gibt Adrianna zerstreut zurück, als sie sich setzt.

Kurz darauf nimmt sie dankend die Tasse entgegen, blickt die junge Frau aber fragend an, weil diese rote Augen hat. »Ist etwas passiert? Hast du geweint?«

Padma schluckt und schüttelt zaghaft den Kopf, deutet im gleichen Zug aber auf die Zeitung: »Ich glaube, dass sie eine Schwindlerin ist.«

Adrianna sieht sie daraufhin nachdenklich an. »Das können wir nicht wissen, Padma. Wir werden sehen.« In Gedanken versunken spielt Adrianna mit dem Becher in ihrer Hand. ‚Könnte es sein? Ist es tatsächlich eine Lüge? Andererseits hat Siddharth doch gesagt, dass er mit ihr ...’ Sie bemerkt, wie sich ihre Augen bei diesen Überlegungen wieder mit Tränen füllen. Um ihren Kummer nicht zu zeigen, trinkt sie nun eilig die Tasse leer und stellt sie anschließend in die Spüle.

»Ich werde für einige Zeit verreisen«, erklärt sie Padma, bevor sie die Küche verlässt. Diese blickt ihr traurig hinterher und wirft dann wütend die Zeitung in den Müll.

 

Während Adrianna packt, ruft sie am Flughafen an. Nachdem sie schließlich aus einer schier endlos andauernden Warteschleife befreit wird, führt sie einen heftigen Disput mit einem Mann am anderen Ende der Leitung.

»Hören Sie, es ist mir gleichgültig, für welchen Flug Sie mich buchen«, ruft sie ungeduldig in den Hörer. Er hat ihr gerade eröffnet, dass ein Flug nach Deutschland für heute nicht mehr möglich ist. Seufzend schließt sie den Koffer und erklärt ihm dann, allerdings weitaus ruhiger: »In circa dreißig Minuten bin ich da. Ich möchte die Stadt auf schnellstem Wege verlassen. Das Ziel ist mir egal.«

Noch einmal blickt sich Adrianna im Schlafzimmer um, dann nimmt sie ihr Gepäck und geht nach unten. Sie wirft einen Blick ins Wohnzimmer, wo ihr Mann noch immer am Fenster steht.

Adrianna betrachtet ihn eine Weile wehmütig. Es fällt ihr unsagbar schwer, ihn zu verlassen. Sie würde sich am liebsten in seine Arme werfen. Doch im Moment steht zu viel zwischen ihnen. Sie muss sich erst im Klaren darüber werden, wie es künftig weitergehen wird. Sie liebt ihn, ohne Zweifel. Allerdings ist sie nicht bereit, ihren Mann mit einer anderen Frau zu teilen und Siddharth ist zu sehr mit dem Gedanken beschäftigt, dem Baby ein guter Vater zu sein.

Ein letztes Mal noch drückt sie ihn im Geiste an sich, küsst ihn sanft zum Abschied. Sie kann ihn fast spüren, riecht seinen unvergleichlichen, herben Duft. Tränen verschleiern ihren Blick, während sie schweren Herzens das Haus verlässt, um in das bereits wartende Taxi zu steigen..

Erst das Motorengeräusch weckt Siddharth aus seinen trüben Gedanken. Wie von Sinnen eilt er in die Eingangshalle und dort zur Tür. Als er hinaustritt, sieht er jedoch nur noch die Rücklichter des davonfahrenden Taxis, die sich langsam zwischen den Bäumen verlieren.

 

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Adrianna sucht am Gepäckband des Kuala Lumpur International Airport nach ihrem Koffer. Sie hat zwar nicht sehr lange Zeit, um ihren Anschlussflug nach Sydney zu erreichen, dennoch wartet sie geduldig. Ungeduldig blickt sie allerdings auf den Herrn vor sich, der seinen Gepäckwagen ausdauernd vor und zurückschiebt.

»Hören Sie, wenn Sie Ihre Sonnenbrille abnehmen würden, könnten Sie vielleicht besser sehen, wo sie hinfahren. Dann müssten Sie mein Schienbein nicht ständig als Prellbock verwenden«, beschwert sie sich ärgerlich, wobei sie versucht einen Schritt zur Seite zu treten. Wegen des großen Andrangs ist ihr das aber nicht möglich.

»Ja, schon gut«, brummt der Mann zurück, ohne sich umzudrehen, was Adriannas Zorn noch steigert. Ihr liegt sogar eine brüske Erwiderung auf den Lippen, die sie aber zurückhält, weil eine Frau, die ihr bekannt vorkommt, neben den sonnenbebrillten Mann getreten ist und sie nun mit offenem Mund anstarrt. Adrianna beobachtet, wie sie ihren Ellenbogen gegen seine Rippen stößt, als sie ihm etwas zuflüstert.

»Entschuldigung«, äußert er daraufhin gedehnt, während er sich zu Adrianna umdreht. Als er sich ihr ganz zuwendet, fährt er bedeutend freundlicher fort: »Oh, Frau Raichand. Es tut mir aufrichtig leid.« ‚Whow, sie ist noch viel schöner als auf den Bildern‘, schießt es ihm durch den Kopf, als er sie nun, nachdem er seine Sonnenbrille abgenommen hat, aufmerksam betrachtet.

»Das ist doch nicht wahr, oder?«, entfährt es Adrianna, weil sie den Mann nun erkennt. »Herr Wizeman?« ‚Das kann doch nicht wahr sein. Einer der berühmtesten Schauspieler Hollywoods steht vor mir und ich blaffe ihn an?‘ Entsetzt über sich selbst, räuspert sie sich verlegen, bevor sie sich bei ihm entschuldigt. »Ich wollte Sie bestimmt nicht so anfauchen.« Dann fällt ihr auf, dass ihr Gegenüber sie mit ihrem Namen angesprochen hat. »Sie wissen, wer ich bin?«

Statt einer Antwort lächelt Jake nur süffisant. ‚Ich weiß noch viel mehr von dir, als du ahnst. Sidhu, das Spiel beginnt.‘

Adrianna ertappt sich, wie sie den Mann immer wieder anstarrt. ‚Gott, ich kenne alle seine Filme. Egal ob Superheld, Herzensbrecher oder Schurke. In Wirklichkeit sieht er noch viel besser aus.‘

Jetzt mischt sich die Frau neben Herrn Wizeman ein, indem sie Adrianna lächelnd die Hand hinhält. »Guten Tag, Frau Raichand. Es freut mich, Sie einmal persönlich kennenzulernen. Ich bin Jakes Frau, Peggy. Wir haben Ihren Mann vor einigen Wochen in London getroffen. Sidhu hat uns so viel von Ihnen erzählt. Natürlich habe ich auch Ihren Film gesehen.« Dabei rollt sie mit den Augen und seufzt gedehnt.

Während Adrianna weiterhin nach ihrem Koffer Ausschau hält, schüttelt sie ihrem Gegenüber die Hand. »Frau Wizeman«, sagt sie freundlich lächelnd, als sie ihren Trolley erspäht. Sie greift danach und wendet sich erneut der Frau zu. »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Aber bitte nennen Sie mich Adrianna.« Immer wieder schweifen ihre Blicke verstohlen zu Jake. Sie fragt sich, warum Siddharth ihr nichts von ihm erzählt hat. Dann muss sie unvermittelt schmunzeln. ‚Es wäre genial, wenn die beiden einmal gemeinsam vor der Kamera stehen würden. Was für ein Blockbuster.‘

Jake hat inzwischen auch den letzten Koffer auf den Gepäckwagen gestellt und blickt nun fragend zu den Frauen. »Können wir? Was führt Sie nach Malaysia, Adrianna?«

Als die Drei sich in Bewegung setzen, legt Jake seine Hand leicht auf Adriannas Rücken. Diese Geste ist ihr jedoch zu vertraulich. Sie versteift sich und sieht ihn mit erhobener Braue an, was ihn letztlich dazu veranlasst, seinen Arm sinken zu lassen. Er wirft ihr einen entschuldigenden Blick zu. ‚Ist sie wirklich eine Ausnahme, Sidhu?

Adrianna schüttelt nur den Kopf, erklärt aber freundlich: »Ich habe hier nur einen kurzen Zwischenstopp. In etwa einer Stunde fliege ich weiter nach Sydney.«

Peggy klatscht begeistert in die Hände, als sie das hört.

»Ich denke, meine Frau wird Ihnen keine Ruhe lassen«, wendet Jake stirnrunzelnd ein. »Sie saugt alles, was nur im Entferntesten mit Bollywood zu tun hat, auf wie ein Staubsauger. Wir sind auch auf dem Weg nach Australien. Verwandtschaftsbesuche. Ich schätze, es wird ein langer Flug.« Er verdreht zwar verzweifelt die Augen, denkt aber bei sich: ‚Und die Zeit werde ich nutzen. Wollen doch mal sehen, ob Siddharth seine Frau wirklich so gut kennt.‘

Nachdem sie die Passkontrolle hinter sich haben, begeben sie sich zum Check-in für den Weiterflug, wo sich Adrianna suchend in der Halle umsieht. ‚Wie gerne hätte ich jetzt eine Tasse Kaffee.‘ Bei ihrer Suche nach einem Coffee-Shop wird sie aber abgelenkt, weil Peggy ihre Hand auf Adriannas Arm legt.

»Wird Sidhu auch kommen?«

Adrianna schüttelt kaum merklich den Kopf. Jakes Frau öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, er kommt ihr jedoch zuvor.

»Ist es wahr?«, fragt er mitfühlend, betrachtet sie aber zugleich unverhohlen neugierig.

Ehe sie antwortet, atmet Adrianna tief durch. Eigentlich will sie sich jetzt nicht über ihren Mann unterhalten. Erst recht nicht mit Jake, aber dennoch beantwortet sie seine Frage mit einem Nicken. »Woher weißt du davon?«, erkundigt sie sich. Schließlich ist die Schlagzeile praktisch noch druckfrisch. Dass sie zum vertrauten du gewechselt hat, fällt ihr dabei gar nicht auf.

Jake lacht sie zwar an, sieht allerdings aus, als wäre er bei einem Streich ertappt worden. »Auch wir VIPs interessieren uns für derlei Klatsch. Außerdem kann ich Siddharth gut leiden und es interessiert mich eben.« ‚Und wenn was dran ist an den Gerüchten, dann wird es ein leichter Sieg werden‘, überlegt er bei sich, während er fasziniert beobachtet, wie sie an ihrer Lippe kaut.

Es wird also schon darüber geklatscht, das hat ja nicht sehr lange gedauert‘, sinniert Adrianna vor sich hin und seufzt auf. »Ich könnte jetzt einen Kaffee gebrauchen.« Sie sieht sich wieder in der Halle um. Gleich darauf wird sie von Peggy mitgezogen, die den Shop bereits entdeckt hat.

Jake folgt den beiden Frauen nachdenklich. ‚Also den Starbonus kann ich nicht bei ihr ausspielen. Sie scheint völlig immun zu sein.‘

»Weiß Sidhu eigentlich, wohin du fliegst?«, fragt Jake, nachdem er sich mit seiner Frau und Adrianna an einen Tisch gesetzt hat. ‚Vielleicht braucht sie jemanden, der sie tröstet. Da würde ich mich gerne anbieten.‘

Adrianna betrachtet ihn misstrauisch über ihren Becher hinweg. »Warum fragst du das?«

Peggy hat nicht die geringste Ahnung, worüber die beiden sprechen. Irritiert blickt sie deshalb ihren Mann und dann Adrianna an, während sich Jake mit verschränkten Armen zurücklehnt.

»Wovon redet ihr zwei denn da andauernd?«, fragt Peggy nun aufgebracht. Sie sieht dabei anklagend zu ihrem Mann, der hingegen nur ungeduldig den Kopf schüttelt und sie anzischt.

»Lies Zeitung, wenn es dich interessiert.«

Adrianna zieht eine Braue hoch, weil ihr die Situation peinlich ist. Sie will auf keinen Fall Zeuge eines Streits zwischen den beiden sein, denn sie hat, weiß Gott, selbst genug Probleme.

»Du kannst nicht davonlaufen«, unterbricht Jake ihr Gedankenspiel. »Du musst dich damit auseinandersetzen. Am besten bringst du es schnell hinter dich. Die Paparazzi werden vorher nämlich keine Ruhe geben.«

Sie holt daraufhin zornig Luft, bevor sie hitzig erwidert: »Du hast doch gar keine Ahnung, wovon du da redest. Ich laufe nicht davon. Mein Mann hat eine uneheliche Tochter. Das ist die ganze Geschichte. Außerdem geht dich das überhaupt nichts an. Ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten.« Mit den letzten Worten ist sie aufgestanden und verlässt hastig den Shop.

Aufgebracht durchquert Adrianna die Halle, bis sie die Fensterfront erreicht, wo sie, mit Tränen in den Augen, nach draußen in die Nacht blickt. ‚Verdammt, was mache ich hier eigentlich? Hat er Recht? Laufe ich davon? Aber wenn ich in seiner Nähe bin, kann ich keine vernünftige Entscheidung treffen.‘ Sie lässt den Kopf gegen die Scheibe sinken, während sie weiter darüber nachgrübelt. ‚Nein, ich laufe nicht davon. Ich muss mir über unsere Zukunft klar werden. Wenn es noch eine Zukunft für uns gibt.‘

Wieder taucht dieses Bild der glücklichen Familie vor ihren Augen auf. Sie sieht Siddharths strahlendes Gesicht, das sie so sehr liebt, das Strahlen seiner Augen, das sonst nur ihr galt. ‚Ich hätte ihn niemals heiraten dürfen. Nicht nachdem ich wusste, dass er sich noch Kinder wünscht, die ich ihm nicht schenken kann.‘

Ohne dass sie es bemerkt hat, steht Jake auf einmal neben ihr und berührt leicht ihren Arm. Er wünschte, er könnte sie in den Arm nehmen, sie trösten oder andere Dinge mit ihr machen, doch er hält sich zurück und entschuldigt sich bei ihr. »Tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

»Schon gut«, beschwichtigt sie ihn kleinlaut, während sie sich verstohlen die Tränen abwischt, da es ihr unangenehm ist, dass er sie so sieht. Dann lächelt sie ihn tapfer an. »Ich habe einfach meinen Frust bei dir abgeladen. Tut mir auch leid.«

Er ist erleichtert, denn er hatte befürchtet, dass sie ihn zum Teufel jagen würde, deshalb lächelt er sie an und legt wieder eine Hand auf ihren Rücken. »In Ordnung, aber jetzt sollten wir in den Flieger steigen.«

Während er Adrianna zum Gate führt, blickt er nachdenklich vor sich hin. Dieses Mal wehrt sie sich nicht gegen seine Berührung, doch er hat den Eindruck, dass sie mit den Gedanken weit weg ist. Obwohl er sie erst kurz kennt, ist er beeindruckt von ihr. Die Wette mit Siddharth hat er für den Augenblick vergessen.

Peggy hat die beiden argwöhnisch beobachtet und wartet nun ungeduldig auf Jake, damit sie endlich das Flugzeug besteigen können. Dass ihr Mann so vertraut mit Adrianna spricht, macht sie misstrauisch, weshalb sie ihr grimmig entgegenblickt.

Adrianna entgeht das natürlich nicht, darum hält sie ihr unwirsch vor: »Ich habe kein Interesse an deinem Mann, also beruhige dich wieder«. Ohne sie weiter zu beachten, geht sie an Peggy vorbei, reicht der Flugbegleiterin ihr Ticket und hastet durch die Fluggastbrücke. ‚Das fehlt mir jetzt noch, dass ich mich mit einer eifersüchtigen Ehefrau auseinandersetzen muss.‘

Im Flugzeug setzt sich Jake zwischen die zwei Frauen. Er will sich mit Adrianna unterhalten. Und seine Frau? Er wünschte, sie wäre in New York geblieben. So wie es ursprünglich geplant war. Eigentlich wollte er ohne sie verreisen, um sich über einige Dinge klar zu werden. Außerdem hätte er bestimmt leichtes Spiel, wenn er mit Adrianna alleine wäre. Die Wette mit Sidhu wäre so gut wie gewonnen, aber so?

»Was hast du vor, wenn du in Sydney bist?«, wendet er sich nun neugierig an sie.

»Ich weiß noch nicht genau. Ich werde mir ein Auto nehmen und die Küste entlang fahren. Wo es mir gefällt, bleibe ich eine Weile.« Adrianna lächelt, während sie darüber spricht, aber das Lächeln umspielt nur ihren Mund. Es kommt nicht bei ihren Augen an.

Jake würde am liebsten den Arm um sie legen, um sie zu trösten. ‚Verdammt Siddharth, was hast du getan. Ihre Augen sehen aus wie die eines verletzten Bambis. Du hast sie wirklich gekränkt. Das hat sie nicht verdient. Wenn ich eine Chance hätte, würde ich sie dir tatsächlich wegnehmen.‘

Diese Gedanken verdrängt er jedoch, weil er sich tatsächlich Sorgen macht. »Das solltest du dir vielleicht noch einmal genau überlegen. Es ist nicht ganz ungefährlich, so als Frau alleine auf der Straße.«

Adrianna lacht daraufhin trocken auf, bevor sie erwidert: »Ich bin schon ein großes Mädchen und kann durchaus auf mich aufpassen. Die großen Jungs machen mir keine Angst, mit denen werde ich fertig.« ‚Hoffentlich kommen jetzt keine gut gemeinten Machosprüche darüber, was alles passieren kann, wenn eine Frau alleine durch eine fremde Gegend fährt. Du hast keine Ahnung, zu was ich fähig bin‘, fügt sie in Gedanken hinzu.

Da Jake ihre Entschlossenheit erkennt, geht er nicht weiter darauf ein. Er nickt nur.

»Und nun möchte ich noch etwas schlafen?« Sie kramt nach ihren Kopfhörern und dem MP3-Player, um die Umgebungsgeräusche auszublenden. Erst jetzt bemerkt sie, wie erschöpft sie tatsächlich ist, deshalb dauert es nicht lange, bis sie einschläft, während Jake sie noch eine Weile ansieht.

‚Du hast sie nicht verdient, Sidhu, aber du kennst sie anscheinend wirklich. Ich schätze, ich habe das Spiel verloren‘, überlegt er bei sich und fährt sich dabei über den Nacken.

 

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Siddharth wandert unruhig im Spiegelsaal umher. ‚Adrianna, bitte komm zu mir. Ich will mit dir reden, Liebling, wehr dich nicht dagegen‘, bittet er im Stillen, bis er sie endlich spürt. Er sieht sich um, läuft lächelnd auf sie zu und will sie in den Arm nehmen, aber sie hebt abwehrend die Hände.

»So geht das nicht, Siddharth. Du kannst nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Das ist es nämlich ganz und gar nicht. Du hast eine Tochter. Ihre Mutter kann dir noch weitere Kinder schenken. Ich kann es nicht. Die Würfel sind also gefallen.« Adrianna blickt ihren Mann zwar tapfer an, kämpft jedoch gegen die aufsteigenden Tränen an. Sie wünscht sich, dass er sie in die Arme nimmt, all ihre Sorgen durch einen Kuss fortwischt. Das hingegen würde das Problem nicht lösen, deshalb weicht sie zurück, als er nun näher kommt.

Ihm ist bewusst, dass er sie verletzt hat, doch dass sie ihn abweist, macht ihn wütend. Mit einem großen Schritt ist er bei ihr, packt sie an den Armen und funkelt sie zornig an. »Was redest du denn da? Ich habe dir gesagt, dass ich keine Kinder mehr will. Das mit Nanda hat nichts bedeutet. Es war ein One-Night-Stand, an den ich mich nicht einmal mehr richtig erinnern kann.«

»Aber Shanti ist deine Tochter. Das bedeutet eben schon etwas«, erwidert Adrianna aufgebracht und schüttelt seine Hände ab. Seine Nähe macht es ihr nur schwerer. Sie spürt bereits einen Kloß im Hals, der sie fast am Sprechen hindert. »Wenn sie eine Rolle in deinem Leben spielt, dann wird auch Nanda ein Teil davon.«

Jetzt kann sie sich nicht mehr dagegen wehren, denn die Tränen brechen einfach hervor. Mit hängenden Schultern steht sie da, hält die Hände vors Gesicht und weint verzweifelt. Sie sehnt sich mit jeder Faser ihres Herzens nach ihm, doch sein Herz gehört nicht mehr ihr allein.

Siddharth spürt ihren Kummer fast körperlich. Deshalb nimmt er sie behutsam in den Arm. »Liebling, weine nicht. Wir werden eine Lösung finden. Ich liebe dich«, flüstert er ihr zu, während er sanft über ihren Rücken streicht. Dann hebt er langsam ihren Kopf und küsst ihre Tränen weg. »Chandni, wirf nicht alles weg, gib uns eine Chance. Komm zurück.«

Adrianna sieht ihn lange nachdenklich an. ‚Er liebt mich und vielleicht finden wir ja doch einen Weg.‘ Die Sehnsucht nach ihm ist stärker als ihr Schmerz und schließlich kann das Kind nichts dafür, aber eine andere Frau neben Siddharth wird sie niemals tolerieren.

»In Ordnung. Finde eine Lösung, aber ich werde dich nicht teilen.«

In Siddharths Augen spiegelt sich Erleichterung. Er möchte sie an sich ziehen, doch Adrianna sträubt sich dagegen, denn sie befürchtet schwach zu werden, wenn sie in seinen Armen liegt und er sie küsst. Allein bei dem Gedanken daran spürt sie ihren Widerstand schwinden und zwingt sich deshalb aufzuwachen.

 

Reglos bleibt Siddharth liegen, während er über den Traum nachdenkt. ‚Oh, Adrianna, es tut mir unendlich leid, dass ich dir so wehgetan habe. Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen.‘ Ein Klopfen an der Tür holt ihn jedoch in die Realität zurück. »Was ist denn«, ruft er ungehalten und hört Neha antworten:

»Frau Suresh ist eben gekommen. Sie möchte Sie dringend sprechen.«

Siddharth setzt sich mürrisch auf, denn auf Besuche hat er derzeit überhaupt keine Lust, doch ihm bleibt keine Wahl. Shalini wird sich nicht abweisen lassen. »Ich komme gleich. Bieten Sie ihr bitte einstweilen Kaffee an«, gibt er deshalb übellaunig zurück, bevor er ins Badezimmer eilt.

»Sonakshi?«, ruft er erstaunt aus, als er wenig später in die Küche kommt. »Ich hatte mit Shalini gerechnet, aber es freut mich, dass du auch einmal vorbeischaust.« Siddharth holt sich ebenfalls eine Tasse Kaffee, ehe er sich zu ihr setzt. »Was gibt es denn?«

Su sieht ihn nur schweigend an, während sie ihren Becher nervös hin und her schiebt. So wie er aussieht, macht er sich schon genügend Vorwürfe. Wenn sie ihn nun auch noch mit Vorhaltungen überschüttet, wird er vermutlich nur trotzig reagieren.

Lange kann er ihrem Blick nicht standhalten und fährt sich seufzend durch die Haare. »Ja, es ist wahr. Shanti ist meine Tochter.«

»Bist du dir wirklich sicher?«, fragt Sonakshi überrascht, wobei sie die Stirn runzelt und sich nach vorne beugt. »Ich habe da nämlich große Zweifel.«

»Wie meinst du das?«

Zunächst mustert ihn Su durchdringend, dann streckt sie die Hände nach ihm aus. Siddharth lehnt sich deshalb nach vorne und legt seine Hände in ihre.

»Hast du Adrianna betrogen?«, fragt sie ihn, nicht ohne eine gewisse Schärfe in der Stimme. Sie spürt, dass er ihr die Hände entziehen möchte, weshalb sie fest zugreift, bevor sie ihre Frage noch einmal nachdrücklich wiederholt: »Hast du?« Su blickt ihm starr in die Augen, dann endlich schüttelt er den Kopf.

»Ich habe weder Sameena noch Adrianna jemals betrogen. Ich hätte gedacht, dass du mich besser kennen und mir nicht solche Schweinereien unterstellen würdest.«

Sie hatte das in der Tat nicht angenommen, doch sie wollte sichergehen. Sie streicht deshalb beruhigend mit den Daumen über Siddharths Hände, als sie ihm in die Augen sieht. »Ich weiß, dass du einen Vaterschaftstest ablehnst. Aus diesem Grund habe ich etwas nachgeforscht.«

Siddharth runzelt daraufhin zornig die Stirn. Sonakshi lässt ihn jedoch nicht zu Wort kommen. »Nanda war zur Entbindung in einer Klinik in Chennai. Der Geburtstermin, den sie genannt hat, ist falsch. Tatsächlich wurde Shanti schon neun Wochen vorher geboren. Bevor du fragst, es war eine normale Schwangerschaft. Shanti kam mit einer Woche Verspätung zur Welt.«

Überrascht über diese Neuigkeit zieht er die Augenbrauen zusammen, rechnet in Gedanken zurück und blickt Sonakshi verständnislos an. »Aber das würde ja bedeuten ... dann ist Shanti doch nicht ...« Während er den Blick weiterhin auf sie gerichtet hält, spiegelt sich Enttäuschung darin wieder. »Ich weiß überhaupt nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Wenn ich so darüber nachdenke, dann war es ein schönes Gefühl, noch einmal ein Baby in den Armen zu halten. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich mir eigentlich doch noch weitere Kinder wünsche.«

Sonakshi lässt abrupt seine Hände los und springt auf. »Das ist doch nicht dein Ernst! Aber du hast doch gewusst, dass AJ keine Kinder bekommen kann. Was hast du nun vor?«

Siddharth hat darauf keine Antwort. Stattdessen sinkt er seufzend auf seinem Stuhl zurück, wobei er schwach mit dem Kopf schüttelt.

»Was ist denn hier los?«, fragt Mahesh aufgeregt, der in diesem Moment mit Naina die Küche betritt. Während beide besorgt auf ihren Sohn blicken, schließt Siddharth tief durchatmend die Augen. Innerlich rüstet er sich für eine Auseinandersetzung.

Sonakshi begrüßt Siddharths Eltern erfreut, wohingegen Raichand Senior sie mit zusammengekniffenen Augen anblickt. »Du glaubst doch hoffentlich nicht diesen Unsinn, das Mädchen sei Sidhus Tochter?«

Verwundert darüber reißt Siddharth die Augen auf. »Was denn? Du nimmst ausnahmsweise mal nicht das Schlechteste von mir an?«

Mahesh räuspert sich beschämt, als er sich neben seinen Sohn setzt, und ihm kurz die Schulter drückt. »Ich weiß, dass ich dir nicht immer so zur Seite stand, wie es ein Vater tun sollte.«

Für einen Moment starrt er seinen Vater perplex an, steht aber dann rasch auf, um Tassen und Kaffee an den Tisch zu holen. Während er die Becher füllt, fragt er seine Eltern: »Warum seid ihr so sicher, dass Shanti nicht meine Tochter ist?«, woraufhin ihm Naina lächelnd antwortet:

»Sie hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit dir. Außerdem sind wir überzeugt davon, dass du Adrianna niemals betrogen hast. Das Mädchen ist älter, als deren Mutter behauptet.«

Siddharth atmet daraufhin zischend aus. Er stellt die Kaffeekanne zurück in die Maschine, wobei etwas von der Flüssigkeit überschwappt und sich über die Arbeitsplatte verteilt. »Ihr wisst ja alle bestens Bescheid«, brummt er ungehalten. Gleichzeitig schleudert er zornig einen Lappen auf die Pfütze.

»Du bist nicht erleichtert?«, fragt ihn seine Mutter verwirrt.

»Erleichtert?«, wiederholt er heftig. Er lehnt sich dabei mit verschränkten Armen an die Spüle und blickt seine Eltern angriffslustig an.

Mit ärgerlich gekrauster Stirn lässt Mahesh daraufhin eine Hand auf den Tisch krachen. »Was zum Teufel soll das heißen?«

»Es heißt, dass ich mir durchaus gewünscht habe, dass Shanti meine Tochter ist. Ich will noch Kinder haben. Das wurde mir erst jetzt bewusst«, erwidert Siddharth hitzig.

»Was meinst du damit?«, engegnet sein Vater fassungslos. »Was hast du vor? Willst du dich schon wieder scheiden lassen?«

»Was redest du denn da?« Aufgebracht wegen dieser Vorwürfe tritt Siddharth nun an den Tisch. »Adrianna kann zwar keine eigenen Kinder bekommen, allerdings können wir welche adoptieren. Ich werde Adrianna niemals verlassen. Wenn sie keine Kinder möchte, dann werde ich das akzeptieren, aber ich hoffe, dass ich sie überzeugen kann.«

Mahesh, soeben noch erzürnt, grinst seinen Sohn nun erfreut an. »Das wollte ich hören. Du machst mich stolz, Junge.«

Naina hat bereits mit einen handfesten Streit zwischen den beiden gerechnet, weswegen sie mit Besorgnis die Unterhaltung verfolgt hat. Erleichtert legt sie jetzt einen Arm um Siddharths Taille und lächelt zu ihm auf. »Wo ist Adrianna eigentlich?«

Er lässt so unerwartet die Schultern hängen, dass sie befürchtet, er würde umfallen. Es ist mehr ein Flüstern, als er ihr antwortet: »Ich habe keine Ahnung. Sie sagte, sie wolle nach Deutschland, aber dort ist sie nicht. Zumindest nicht dort, wo sie hinwollte.«

Mahesh und Naina blicken daraufhin gleichzeitig zu Sonakshi. »Könnt ihr nicht?«, fragen sie hoffnungsvoll, da ihnen bekannt ist, dass Adriannas Familie für das FBI arbeitet. Su schüttelt jedoch nur bedauernd den Kopf.  

»Und du hast keine Ahnung, wo sie sonst sein könnte?«, wendet sich Naina bedrückt an ihren Sohn. »Kannst du denn nicht mit ihr träumen?«

Siddharth sinkt seufzend auf einen Stuhl und stützt die Arme auf den Tisch. »Heute Nacht habe ich von ihr geträumt«, erklärt er niedergeschlagen. »Aber es war nicht einfach. Sie hat sich dagegen gewehrt. Ich habe sie verletzt. Sie will mich jetzt nicht sehen.«

Frustriert blickt er vor sich hin, dann schließt er die Augen und atmet tief durch, bevor er aufsteht. Versonnen durchquert er einige Male den Raum, dann wendet er sich mit einem Mal aufgeregt an seinen Vater. »Dad, ich will eine Pressekonferenz. So richtig groß, mit viel Tamtam. Wenn Shanti tatsächlich nicht meine Tochter ist, dann muss es Adrianna erfahren, so bekommt sie es vielleicht mit. Außerdem werde ich in den Social-Netzwerken Meldungen absetzen. Kann ja sein, dass meine Fans sie finden.«

»Hältst du das wirklich für nötig?«, fragt Mahesh nachdenklich. »Das könnte auch jede Menge Gesindel hervorlocken, das deiner Frau nicht ganz so wohl gesonnen ist.« Voller Mitgefühl blickt er zu seinem Sohn, der daraufhin die Schultern hängen lässt.

»Aber ich kann doch nicht so einfach dasitzen und nichts tun!«

»Ja ganz toll! Ich lauf mir hier die Hacken ab und du sitzt rum und tust nichts?« Karan kommt in dem Augenblick in die Küche, als sich Siddharth wieder setzen möchte. »Los schnapp dir deinen Koffer. Wir müssen zurück nach London. Die Arbeit, du weißt noch? Film drehen? Geld verdienen?« Er haut Siddharth kräftig auf die Schulter und nickt den anderen grinsend zu. Erst jetzt bemerkt er die gedrückte Stimmung. »Was ist passiert?«

»Kannst du dir das nicht denken nach den neuesten Schlagzeilen? Adrianna ist weg«, antwortet Siddharth aufbrausend, wobei er den Freund finster anblickt.

Karan zuckt nur mit der Schulter und holt sich auch eine Tasse Kaffee. »Sie kommt wieder. Lass ihr Zeit«, wirft er lakonisch ein.

»Willst du mir vielleicht irgendetwas sagen?«, fragt er daraufhin misstrauisch. »Weißt du etwas?«

Doch Karan betrachtet den Becher in seiner Hand, als gäbe es nichts Interessanteres. »Ich weiß, dass sie dich liebt. Sie wird wieder kommen, davon bin ich überzeugt.«

»Bist du jetzt Karan Nostradamus? Wieso bist du so sicher, dass sie zurückkehrt? Sie ist verletzt und hat wirklich allen Grund dazu«, erwidert Siddharth gereizt, lässt aber gleich darauf den Kopf hängen. »Es würde mich nicht wundern, wenn sie mich endgültig verlässt.«

»Mich auch nicht«, merkt Karan sarkastisch an, stellt jedoch seine Tasse weg und geht langsam auf seinen Freund zu. »Hör mal, dass sie erst einmal Abstand braucht, ist doch ganz natürlich. Hast du dir die Presseberichte angesehen?« Siddharth blickt ihn verständnislos an.

»Die Medien berichten nicht nur über Shanti, sondern spekulieren außerdem, warum Adrianna nicht längst schwanger ist. Es tauchen bereits Scheidungsgerüchte auf ... Sie braucht Zeit zum Nachdenken. Klar ist sie verletzt, aber sie ist stark und ihre Liebe zu dir?«

Jetzt legt Karan grinsend eine Hand auf Siddharths Schulter. »Hey, du weißt, dass ich recht habe. Lass ihr etwas Zeit. Sie kommt wieder. Lass es sie wissen, dass Shanti nicht deine Tochter ... »

»Woher weißt du denn davon?«, unterbricht ihn Siddharth jäh, wobei er erzürnt aufspringt.

Karan stutzt und sieht den Freund verwirrt an. »Jeder bei Verstand weiß das. Wenn sie deine Tochter wäre, dann würde das bedeuten, dass du eine Affäre gehabt hättest, als du bereits mit Adrianna zusammen warst. Das ist ja wohl wirklich lächerlich. Hey Mann, ich kenne dich doch.«

»Das ist wirklich ganz toll. Jeder, außer Adrianna, scheint zu wissen, dass Shanti nicht meine Tochter ist. Was soll ich jetzt davon halten? Wenn sie mich wirklich lieben würde, dann könnte sie das doch nicht glauben.«

»Was hast du ihr denn gesagt, als sie die Schlagzeile gelesen hat?«, wirft ihm Sonakshi jetzt hitzig vor. »Hast du ihr gesagt, dass Shanti nicht deine Tochter ist?«

Siddharth gibt ihr darauf keine Antwort, sondern blickt nur mit zusammengezogenen Brauen trotzig zurück, weshalb sie weiterhin aufgebracht auf ihn einredet. »Du denkst doch immer noch, dass Shanti von dir ist, was soll Adrianna also davon halten?« Su muss tief durchatmen, so zornig ist sie nun. »Du wünscht dir Kinder, aber hast du dir jemals überlegt, was das in Adrianna auslöst? Sie liebt deine Söhne, weil sie ein Teil von dir sind, aber es bereitet ihr Seelenqualen, dass sie dir keine Kinder schenken kann. Und jetzt, so mir nichts dir nichts, taucht auch noch eine Tochter auf? Kannst du dir nicht vorstellen, wie es in ihr aussieht?«

Nachdenklich blickt Siddharth Sonakshi an. Darüber hat er sich tatsächlich keine Gedanken gemacht, doch ehe Adrianna zurück ist, kann er ohnehin nichts unternehmen. »Ich geh packen«, äußert er deshalb knapp, bevor er die Küche grußlos verlässt.

Während Karan dem Freund hinterher eilt, wirft Sonakshi verzweifelt die Arme in die Höhe und ruft ihm nach:

»Du kannst nicht immer davonlaufen. Denk darüber nach, was ich gesagt habe.« Kopfschüttelnd dreht sie sich anschließend zu Mahesh und Naina um. »Kinder! Nie tun sie das, was man ihnen sagt.«

Mahesh lacht laut auf, als er belustigt erwidert: »Wie wahr, wie wahr. Wir waren da ganz anders.«

Verwirrt sieht Su ihn an, bevor sie in sein Lachen einfällt. »Schön, dass wir uns wieder gesehen haben. Ich werde jetzt gehen und sehen, ob ich AJ nicht doch finde.«

Mahesh und Naina erheben sich ebenfalls und gemeinsam verlassen sie das Haus.

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»Strafe muss sein« Kurzgeschichte in der Anthologie: Geschichten aus aller Welt - Jedes Wort ein Atemzug

 

 

 

 

 

 

»Mami?«

Das, zusammen mit dem gekonnten Augenaufschlag meiner Tochter, ließ mich in Hab-Acht-Stellung gehen. Da sie üblicherweise nur ‚Mom‘ zu mir sagte, wollte sie vermutlich etwas von mir. Ich hatte zwar mitbekommen, dass sie Markus, meinen Mann, abgefangen hatte, als er von der Arbeit nach Hause kam, was die Zwei im Flur tuschelten, konnte ich aber nicht verstehen.

Als Mutter ist man ja gegen solche Überraschungsangriffe in Form von herzerweichenden Wimpernaufschlägen gefeit, Markus hingegen konnte Leonie kaum etwas abschlagen. Deswegen hatten wir schon zahlreiche Auseinandersetzungen, die er allerdings stets damit beendete, dass er mich umarmte. Er zog dabei jedes Mal einen Schmollmund, dem ich, selbst nach zwanzig Jahren Ehe, nicht widerstehen konnte, was er natürlich wusste und, das könnte ich beschwören, ganz gezielt einsetzte. Trotzdem war es mir gelungen ihn zu überzeugen, dass er ihr nicht alles durchgehen lassen dürfe und wichtige Entscheidungen zuerst mit mir absprechen solle.

Offenbar hielt er sich daran, worüber ich mich eigentlich freute. Andererseits hatte er ihr aber wieder nichts abgeschlagen, sondern sie stattdessen zu mir geschickt.

»Mamilein«, wiederholte Leonie noch einmal schmeichelnd, weil ich ihr bisher keine Beachtung geschenkt hatte. Sie legte dabei einen Arm über meine Schulter, was ihr mühelos gelang, denn trotz ihrer erst siebzehn Jahre war sie sehr groß und überragte mich bereits jetzt um mehr als einen halben Kopf.

»Ach, Schätzchen, das ist lieb von dir, dass du mir helfen willst«, überging ich sie erneut und überhäufte sie mit Anweisungen. »Reich mir doch bitte die Nudeln. Das Abtropfsieb kannst du auch gleich herausholen und dann auch noch den Tisch decken.«

Sofort zog sie ihren Arm zurück und sah mich vorwurfsvoll an, langte aber, nach einem Blick auf meine gerunzelte Stirn, doch ...

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»Sommerfeuer« Kurzgeschichte in der Anthologie: Sommer und noch Mehr

»Wer sind Sie?« Die Stimme zerschnitt die morgendliche Stille in der geräumigen Küche wie ein Donnergrollen.

Maddy, soeben damit beschäftigt, etwas Käse aufzuschneiden, fuhr mit erhobenem Messer herum.

»Herrgott! Sie haben mich zu Tode erschreckt!«, entfuhr es ihr. »Sie sollten sich nicht so anschleichen, oder wollen Sie noch so eine hässliche Narbe riskieren?« Eric zog ob dieses furchtlosen Hinweises auf sein entstelltes Gesicht die Brauen zusammen und wiederholte seine Frage.

Sie hatte sich wieder dem Käse zugewandt und antwortete über die Schulter: »Ich bin Maddy, die Tochter von Magdalena. Sie hat sich ein Bein gebrochen, als sie die Kellertreppe hinabstieg.« Maddy deutete auf den gedeckten Tisch. »Frühstück ist fertig. Bitte setzen Sie sich.«

Während sie die Käseplatte von der Anrichte zum Tisch brachte, redete sie munter weiter: »Sie müssen gestern spät eingetroffen sein. Wahrscheinlich haben wir uns nur knapp verpasst.« Auf seinen fragenden Blick hin erklärte sie: »Ich habe im Dorf bei meinem Vater geschlafen und bin erst heute Morgen wieder hierhergekommen.« Noch einmal wandte sie sich um und holte die Kaffeekanne. Ihren Redeschwall unterbrach sie nicht: »Wir wussten nicht genau, wann Sie ankommen werden, aber die meisten Zimmer sind bereits gereinigt. Gestern wurde ein Paket für Sie geliefert. Es liegt im Arbeitszimmer.«

Er beobachtete sie, wie sie anmutig zwischen der Küchenzeile und dem Tisch hin und herlief, ihm Kaffee eingoss und ein Glas mit Orangensaft füllte. Was ihn jedoch am meisten beeindruckte, war ...

 

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»Die Wette« Kurzgeschichte in der Anthologie: Hinter den Kulissen - wenn Worte zu Geschichten werden

Teno griff nach dem Glas, das neben seinem Laptop stand, und hob es an die Lippen. Er erwartete ein leichtes Brennen im Mund, doch der letzte Tropfen des billigen Whiskys war bereits ausgetrunken. Das Glas war genauso leer wie das virtuelle Blatt Papier auf dem Monitor vor ihm.

»Auf was habe ich mich da wieder eingelassen«, schimpfte er undeutlich und erhob sich schwankend vom kargen Schreibtisch

Es war dunkel, nur der weiße Bildschirm spendete etwas Licht. Gerade genug, damit er den Weg zum Bett fand. Träge ließ er sich auf die Matratze plumpsen und starrte blicklos an die Decke. Außer dem Geräusch des Lüfters seines Notebooks war nichts zu hören.

»Morgen«, raunte er in die Stille, bevor ihm die Augen zufielen. »Morgen fange ich an.«

 

Vereinzelte Sonnenstrahlen stahlen sich durch die geschlossenen Fensterläden der schäbigen Gartenlaube, in die sich Teno zurückgezogen hatte. Nur langsam öffnete er die Augen. Eigentlich wollte er nicht aufstehen, doch die Natur forderte ihr Recht.

Schwerfällig rappelte er sich von der durchgelegenen Pritsche hoch und marschierte aus der Hütte hinüber zu seinem Bungalow.

Nachdem er geduscht und eine Thermoskanne mit frischem Kaffee gefüllt hatte, trabte er zurück in sein selbst erwähltes Exil. Hierher zog er sich ...

 

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Autor: Medusa Mabuse

Kapitel 1 - Ich nenne dich Chandni

Carlotta erhebt sich steif aus ihrem großen Sessel hinter dem monströsen Schreibtisch. Ihr Gesicht wirkt versteinert und zeigt keinerlei Regung. Ihr Blick hingegen heftet sich auf den Kriminalbeamten, der ihr gegenübersteht und im Begriff ist, sich zu verabschieden.

»Bemühen Sie sich nicht, Señora Martinez, ich finde allein hinaus.« Er ist etwas irritiert, vielleicht deshalb, weil die alte Dame sehr gefasst ist. Viel zu sehr, was ihn üblicherweise sofort stutzig werden lässt. Andererseits kennt er sie schon sehr lange, da seine Töchter seit Jahren ihre Tanzschule besuchen. Aus diesem Grund hat er es persönlich übernommen, sie von dem tödlichen Anschlag auf ihren Sohn und ihre Schwiegertochter zu unterrichten.

»Herr Köhler«, wendet sie sich nun an ihn, wobei er bemerkt, dass sie jetzt doch um Fassung ringt, sich aber rasch wieder im Griff hat. »Würden Sie mich über die Ermittlungen informieren?«

Der Beamte nickt ihr freundlich zu und deutet gleichzeitig auf seine Visitenkarte, die er auf ihren Schreibtisch gelegt hat. »Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Ich versichere Ihnen, dass wir die Täter fassen werden.«

Carlotta sinkt in ihren Sessel zurück, während der Kriminalbeamte das Arbeitszimmer verlässt. Erst als sie das Geräusch der zufallenden Haustür hört, beugt sie sich wieder nach vorne zum Schreibtisch, um die Schublade unter der Arbeitsplatte zu öffnen. Ihr entnimmt sie ein kleines, rotes Notizbuch.

»Das kann ich nicht zulassen«, raunt sie in die Stille des Raumes, als sie das Büchlein auf der Suche nach einer ganz bestimmten Nummer durchblättert. Bevor sie zum Telefon greift, wirft sie einen kurzen Blick auf die Kaminuhr. Sie zögert einen Moment, in dem sie überlegt, ob sie den Anruf verschieben soll, da es in den Staaten erst früher Morgen ist, aber die Angelegenheit duldet keinen Aufschub. Bereits eine knappe Minute später hört sie eine sehr verschlafene Stimme, die jedoch hellwach klingt, als sie sich meldet.

»Carlotta, was ist passiert?«

»Tut mir leid, Laura, dass ich dich so früh störe. Es ist in der Tat etwas Entsetzliches geschehen. Juan und Sunehri wurden heute Vormittag in ihrem Wagen erschossen.« Sie hält kurz inne, denn es auszusprechen macht es so endgültig, aber für Trauer hat sie jetzt keine Zeit. Ehe sie weitersprechen kann, ruft Laura bestürzt:

»Das ist ja furchtbar, Carlotta. Das tut mir schrecklich leid. Wie geht es dir? Kann ich irgendetwas für dich tun?«

Die alte Dame ist erleichtert, dass sie so schnell ihre Hilfe anbietet, denn das ist der eigentliche Grund für diesen Anruf.

»Soeben war ein Beamter der Kriminalpolizei bei mir. Laura, ich muss dich um einen Gefallen bitten. Du musst verhindern, dass die Kripo ermittelt. Ich kann mir vorstellen, wer dahintersteckt. Sollten die Täter gefasst werden, bringt mir das meine Kinder aber nicht zurück. Viktor dagegen erfährt vielleicht davon. Das will ich unter allen Umständen vermeiden. Kannst du in den nächsten Tagen vorbeikommen? Ich möchte mich darüber nicht weiter am Telefon unterhalten.«

»Du bist gut«, erwidert die Frau am anderen Ende aufgebracht. »Wie stellst du dir das vor? Unser Arm reicht zwar weit, doch ich glaube kaum, dass das FBI die Ermittlungen eines Mordfalles in Europa verhindern kann. Hast du überhaupt eine Ahnung, in was für eine Situation du mich dadurch bringst? Ich könnte veranlassen, dass die Presse aus dem Fall herausgehalten wird. Vielleicht besteht auch die Möglichkeit, die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden zu lassen, sollte es tatsächlich zu einer Verhaftung kommen. Mehr kann ich dir momentan nicht zusichern. Wie dem auch sei, ich fliege, so schnell es geht, nach Deutschland. Bestimmt kann ich dir dann schon sagen, wie wir weiter vorgehen. Mach dir wegen Viktor keine Sorgen. Er wird nach wie vor beobachtet. Er verhält sich ruhig. Agiert nur noch im Hintergrund. Ich denke nicht, dass er noch immer nach dir sucht.«

»Das Risiko kann ich nicht eingehen. Das verstehst du doch?«

»Das tue ich, natürlich. Hast du denn einen Verdacht, wem am Tod von Juan und Sunehri gelegen ist?«

Bevor Carlotta antwortet, atmet sie erst einmal geräuschvoll aus, denn sie hat nicht nur einen Verdacht. Für sie steht absolut fest, wer dahinter steckt. »Das indische Syndikat, wer sonst? Immerhin wird Sunehris Familie seit Jahren bedroht. Es ist ja nicht das erste Mal, dass diese Verbrecher zu solch drastischen Mitteln greifen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Deshalb will ich auch nicht, dass die Polizei weitere Nachforschungen anstellt. Ich will nicht, dass das Gesindel zurückkehrt und sich vielleicht auch noch an Adrianna vergreift. Sie ist das Einzige, was mir noch geblieben ist.«

»Na gut, dann werde ich meine Fühler in dieser Richtung ausstrecken. Wo treffen wir uns? Kannst du nach München kommen? Das wäre einfacher für mich.«

»Sag mir nur, wann du ankommen wirst, dann hole ich dich vom Flughafen ab. Alles Weitere besprechen wir danach.«

»Dann bis in ein paar Tagen und Carlotta, es tut mir wirklich leid.«

Darauf kann die alte Dame nicht mehr antworten. Sie beendet das Gespräch rasch, als sie spürt, wie sich ihr Herz zusammenzieht und sich ein dicker Kloß in ihrem Hals bildet.

Ihr Blick fällt auf einen Bilderrahmen, der neben dem Telefon steht. Aufschluchzend greift sie danach und streicht mit zitternden Fingern darüber. Das Foto ist erst einige Wochen alt und zeigt drei lachende, glückliche Menschen. Ihr Sohn, ihre Schwiegertochter und ihre Enkelin sind darauf abgebildet. Es schmerzt sie unsagbar, dass Juan und Sunehri nicht wieder nach Hause kommen und Adrianna ohne ihre geliebten Eltern aufwachsen muss. Nun kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Das Bild verschwimmt vor ihren Augen. Von Trauer überwältigt sinkt sie in ihrem Sessel zusammen und gibt sich dem Schmerz über den Verlust ihrer Kinder hin.

Das Arbeitszimmer liegt bereits im Dunkeln, als sich Carlotta erhebt. Adrianna, ihre Enkeltochter, wird bald von einem Ausflug mit ihrer Freundin Carmen zurückkehren. Das Mädchen soll sie aber nicht so aufgelöst vorfinden. Carlottas Beine gehorchen ihr nur zögernd, als sie ins Badezimmer geht. Sie fürchtet sich vor dem Moment, wenn Adrianna nach Hause kommt. Wie soll sie einem Kind von knapp sieben Jahren beibringen, dass es keine Eltern mehr hat.

In dieser Nacht in Deutschland:

Adrianna wälzt sich unruhig im Schlaf und murmelt vor sich hin. »Wo ist er nur. Ich muss dorthin. Sonst können wir uns nicht finden.« Diese Worte wiederholt sie immer wieder, doch mit einem Mal verschwindet diese Unruhe. Sie sinkt in tiefen, festen Schlaf.

Das Mädchen schaut sich neugierig um. Sie ist in einem beeindruckend großen Saal, in dessen Mitte ein Tisch mit einem riesigen Kerzenleuchter steht, der das einzige Licht spendet. Dieses wird reflektiert von deckenhohen Spiegeln, die, eingefasst von barocken Rahmen, dicht an dicht an den mit dunkelrotem Stoff bespannten Wänden hängen. Die Decke ist mit kunstvoll geschnitzten Holztafeln verkleidet und der Parkettfußboden ist so blank poliert, dass man sich fast darin spiegeln kann.

Adrianna dreht sich ein paar Mal im Kreis und betrachtet den Saal, als sie eine leise, fröhliche Melodie hört. Sie kann nicht erkennen, woher sie kommt, deshalb schlendert sie durch den Raum und lauscht den Klängen, die sie trotz ihrer Traurigkeit ein wenig aufheitern.

Da es in diesem imposanten Saal keine Stühle gibt, lässt sich das Mädchen vor einem der Spiegel auf den Boden sinken. Eine Weile sitzt sie einfach nur starr vor sich hinblickend da, und denkt traurig darüber nach, was ihre Großmutter ihr heute erzählt hatte. Mom und Dad würden nicht mehr kommen, denn sie seien jetzt im Himmel und würden in Zukunft von dort über sie wachen.

Nur ganz allmählich begreift das Kind das Ausmaß dieses Verlustes. Sie beginnt bitterlich zu weinen, zieht dabei langsam die Beine an und legt die Stirn auf ihre Knie. Ihr kleiner Körper bebt vor Kummer. ‚Warum Mama, warum seid ihr gegangen. Warum habt ihr mich nicht mitgenommen? Habt ihr mich nicht mehr lieb? Ich will, dass ihr zurückkommt!‘ Der Schmerz über den Verlust der geliebten Eltern lässt sie heftig schluchzen.

Während sie noch verzweifelt an ihr Unglück denkt, spürt sie, wie jemand ganz sachte ihren Kopf berührt. Blinzelnd versucht sie zu erkennen, wer außer ihr noch hier ist, und tatsächlich erblickt sie neben sich einen Jungen, der ungefähr in ihrem Alter ist.

Ebenso wie Adrianna, hat er einen etwas dunkleren Hautton und schwarzes, dichtes Haar. Der Knabe sieht sie mitfühlend an, rückt ein Stück näher und hält dabei ihren Blick gefangen. ‚Whow, seine Augen leuchten wie grüne Edelsteine‘, überlegt sie fasziniert, als sie ihn betrachtet und für einen winzigen Augenblick vergisst sie sogar ihren Schmerz.

Seine Hand streicht sanft über ihre Wange. Schüchtern lächelnd fragt er sie: »Magst du mir erzählen, warum du so sehr weinen musst?«

Adrianna grübelt eine Weile über das Auftauchen des Jungen. ‚Wo ist er auf einmal hergekommen? Wie kann er in meinem Traum sein? Ich kenne ihn doch gar nicht.‘ Sie kaut dabei an ihrer Lippe, was sie ständig tut, wenn sie angestrengt nachdenkt. ‚Dad, ist er derjenige, den ich finden sollte? Aber warum jetzt? Mom, du hast gesagt, dass ich jemandem im Traum begegnen würde. Wenn die richtige Zeit da ist. Ich will viel lieber, dass ihr bei mir seid.‘

Ihre Eltern hatten ihr erzählt, dass sie irgendwann einmal in ihren Träumen einem ganz besonderen Menschen begegnen wird, der sie fortan begleiten würde. Lange glaubte sie daran, so wie sie an die Märchen glaubte, die ihr Vater ihr vorlas. Seit einiger Zeit jedoch war sie nicht mehr davon überzeugt. Sie hörte sich die Geschichten zwar gerne an, machte sich aber ihre eigenen Gedanken darüber.

Es gibt keine verzauberten Frösche, die sich in Prinzen verwandeln. Genau so wenig wie Prinzessinnen, die hundert Jahre schlafen und danach immer noch jung und wunderschön aufwachen. Aschenputtel existiert vielleicht tatsächlich, aber dass eine Zauberin einen Kürbis in eine Kutsche verhext, ist nichts weiter als eine alberne Fabel.

Wenn also all diese Erzählungen nichts als Erfindungen sind, ist es vermutlich auch nicht wahr, dass sie jemandem im Traum begegnet. Selbst wenn doch, warum gerade heute, am schlimmsten Tag ihres Lebens? Steckt möglicherweise doch ein Funken Wahrheit dahinter? Haben ihre Eltern den Jungen zu ihr geschickt, damit sie nicht alleine ist? Daran würde sie nur allzu gerne glauben, auch wenn sie viel lieber Vater und Mutter bei sich hätte. Doch sie sind tot. Kein Zauber der Welt wird ihr die geliebten Eltern je wieder bringen.

Während all dieser Überlegungen hält sie den Blick auf den Knaben gerichtet, der stumm neben ihr sitzt und sie mitfühlend ansieht. Entgegen ihren sonstigen Träumen kann sie seine Nähe spüren, was sie verwirrt, denn sie hat den Eindruck, als kenne sie ihn schon sehr lange. Obwohl sie sich sicher ist, dass sie ihm noch niemals zuvor begegnet ist, empfindet sie eine tiefe Verbundenheit mit ihm. Deshalb beschließt sie, ihm zu vertrauen.

Sie hat das Gefühl, dass er sie verstehen und stets für sie da sein wird. ‚Ich weiß einfach, dass er für immer und ewig mein Freund sein wird‘, überzeugt sie sich selbst, bevor sie dem Jungen schluchzend ihr Herz ausschüttet.

Ohne sie zu unterbrechen, hört er ihr aufmerksam zu, legt fürsorglich einen Arm um ihre Schultern. Als sie zu Ende erzählt hat, wiegt er sie leicht hin und her. Er lässt ihr dadurch etwas Zeit, sich zu beruhigen. Außerdem verschafft ihm das auch die Gelegenheit, die richtigen Worte zu finden, um sie zu trösten.

»Das ist echt schlimm mit deinen Eltern. Ich wäre bestimmt auch sehr traurig. Aber du musst keine Angst haben. Ich werde dich immer beschützen. Dir wird nichts passieren.«

Adrianna spürt, dass er es sehr ernst meint. Auf ihn könnte sie sich stets verlassen. ‚Er ist wirklich lieb‘, überlegt sie, während sie ihn nachdenklich betrachtet. ‚Nicht so wie die Jungs aus dem Kindergarten. Die ärgern mich dauernd. Ich mag ihn‘, beschließt sie, als sie sich aufrichtet, um ihn anzusehen. »Danke, du bist nett. Wie heißt du eigentlich? Mein Name ist ...«

In eben diesem Moment, als sie ihren Namen preisgeben will, tritt Carlotta vorsichtig an das Bett ihrer Enkelin. Strenggenommen ist heute Adriannas erster Schultag, nach allem, was sich am Vortag zugetragen hat, will sie dem Kind aber nicht zumuten, heute in die Schule zu gehen. Eine Weile betrachtet sie Adrianna und entschließt sich, als sie das Lächeln des schlafenden Kindes bemerkt, sie aufzuwecken.

»Adrianna«, flüstert sie und streichelt zärtlich ihre Wange. »Wach auf, Plappermäulchen.« So nennt sie ihre Enkeltochter, seit diese zu sprechen gelernt hatte. Adrianna redet, wenn sie aufgeregt ist, ohne dabei Luft zu holen, was es beinahe unmöglich macht, ihren Gedankengängen zu folgen.

Blinzelnd schlägt das Mädchen nun die Augen auf. Ihre Großmutter zieht sie an sich und streicht ihr über den Kopf .

»Du musst nicht zur Schule. Wenn du willst, nehme ich dich heute Vormittag mit in meine Tanzschule. Würde dir das gefallen?«

Adriannas Augen blitzen kurz auf. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, aber sofort wird sie wieder ernst. »Kommen Mom und Dad zurück, wenn ich nicht in die Schule gehe?«

Kaum merklich schüttelt Carlotta den Kopf und flüstert zögernd: »Nein, mi corazón, sie kommen nie wieder.«

»Dann gehe ich zur Schule. Du hast gesagt, dass sie im Himmel sind und zu uns herunterschauen. Sie wären bestimmt böse, wenn ich schon am ersten Tag schwänze.«

»Ganz wie du willst, mi corazón. Dann mache ich jetzt Frühstück und du ziehst dich rasch an.«

Mit einem Kopfschütteln verlässt Carlotta das Zimmer, während Adrianna noch liegen bleibt.

‘Gestern hat mich Mama geweckt’, überlegt sie, dabei steigen wieder dicke Tränen in ihre Augen. ‘Sie wird mich nie mehr wecken oder mich vom Kindergarten abholen.’ Traurig richtet sie sich auf und greift nach dem Foto ihrer Eltern, das neben dem Bett auf dem Nachttisch steht. Mit den Ärmeln ihres Schlafanzugs fährt sie sich über das Gesicht, damit sie das Bild genauer ansehen kann. ‘Wer liest mir jetzt Gute-Nacht-Geschichten vor?’ Erneut rollen Tränen über ihre Wangen, die sie mit der Hand abwischt. »Ich hab euch lieb«, flüstert sie und drückt ihre Lippen auf die Fotografie. ‘Ich gehe zur Schule und lerne lesen. Dann kann ich dir Geschichten vorlesen, Papa. Und ich werde mit dir singen, Mama. Es war so lustig mit dir im Auto zu fahren. Du hast immer gesungen. Das werde ich auch tun.’

Nachdem sie das Foto noch einen Augenblick traurig betrachtet, stellt sie es zögernd zurück. »Weißt du, Mama, heute Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Da war ein Junge, der mich getröstet hat. Es war fast so, als wäre er wirklich da gewesen.«

Selbst in ihren Ohren klingt es verrückt, als sie sich das sagen hört, obwohl sie es erlebt hat. Deshalb richtet sie den Blick nun fragend auf das Bildnis ihrer Mutter, ganz so, als erwarte sie ausgelacht zu werden, was natürlich nicht geschieht. Sie seufzt deswegen erleichtert auf und denkt an die vergangene Nacht. ‚Dieser Junge ist wirklich freundlich. Überhaupt nicht so wie die anderen Jungs, die ich kenne. Schade, dass er mir seinen Namen nicht verraten konnte. Das nächste Mal werde ich ihn danach fragen.\'

Nach wie vor spürt sie die Trauer über den Verlust der Eltern, ist aber überzeugt, einen Freund fürs Leben gefunden zu haben, von dem sie sicher wieder träumen wird. Und davon muss sie unbedingt ihrer Freundin Carmen erzählen.

In der gleichen Nacht in Bombay:

Siddharth schläft unruhig. Er wälzt sich von einer Seite zur anderen und redet dabei. »Ich muss sie finden. Sie ist so alleine, so traurig. Sie braucht jemanden, der sie tröstet.« Allmählich jedoch gleitet auch er in einen tiefen Schlaf.

Zunächst stolpert er durch die Dunkelheit, bis er in einiger Entfernung einen Lichtschein bemerkt und ein leises, bitterliches Schluchzen hört. Bekümmert blickt er sich um. Er sucht das Mädchen, das so weint, ist sich sicher, dass es ein Mädchen ist. Als er sie endlich entdeckt, kniet er sich neben sie.

Voller Sorge betrachtet er sie, doch sie hat die Stirn auf die Knie gelegt. Siddharth sieht nichts als dunkelbraune, lange Locken. Langsam streicht er ihr über das Haar, und als sie verwundert den Kopf hebt, erblickt er staunend ihr wunderschönes betrübtes Gesicht. Ihre Augen sind riesengroß und so dunkel, dass sie fast schwarz scheinen. Noch nie hat er so ein hübsches Mädchen gesehen, und obwohl sie so voller Kummer ist, glitzert es freundlich in ihren Augen. Vorsichtig, fast scheu, um sie nicht zu erschrecken, streichelt der Junge sanft ihre Wange, und fragt:

»Magst du mir erzählen, warum du so sehr weinen musst?«

Er vermutet, dass sie abwägt, ob sie ihm trauen kann, denn sie sieht ihn mit großen schimmernden Augen an. ‚Ich habe sie endlich gefunden. Sie ist so schön und so traurig. Ich wünschte wirklich, dass ich sie trösten könnte. Sie soll nicht mehr so trübselig sein. Wie gerne wäre ich ihr Freund. Dann würde ich sie immer zum Lachen bringen. Ihre Augen funkeln bestimmt, wenn sie lacht.‘

Während er darüber nachdenkt, blickt er ihr aufmunternd entgegen und schließlich beginnt sie zu erzählen. Siddharth hört entsetzt, was ihr passiert ist. Obwohl er das Mädchen nicht kennt, spürt er ihre Verzweiflung. Hilflos und ebenso niedergeschlagen wie sie, sitzt er neben ihr und überlegt, was er sagen soll. Er weiß, dass er irgendetwas tun sollte, aber noch nie in seinem Leben hat er so etwas Furchtbares gehört. ‚Wenn mein Dad und meine Mom tot wären, könnte ich nie mehr fröhlich sein. Was soll ich ihr denn sagen. Wie soll ich sie denn trösten?‘

Ohne die geringste Ahnung, was sie vielleicht von ihm erwartet, legt er den Arm um sie und drückt sie sanft an sich. Um die Stille zu durchbrechen, spricht er dann einfach aus, was ihm gerade in den Sinn kommt. »Das ist echt schlimm mit deinen Eltern. Ich wäre bestimmt auch sehr traurig. Aber du musst keine Angst haben. Ich werde dich immer beschützen. Dir wird nichts passieren.«

Es ist ihm wirklich ernst damit. Sie ist so unglücklich und alleine, braucht einen Freund, der für sie da ist, und das will er sein. Er hält sie noch schützend im Arm, als sie den Kopf hebt und ihn vorsichtig ansieht.

»Danke, du bist nett. Wie heißt du eigentlich? Mein Name ist ...«

Bevor er ihren Namen hört, wird Siddharth wachgerüttelt. »Los raus, du Schlafmütze. Aufstehen.«

Enttäuscht darüber kriecht er tiefer unter die Bettdecke und murmelt erstickt: »Bitte nicht, Mama. Nur noch ein paar Minuten.« Aber seine Mutter übergeht seine Bitte. Sie zieht die Decke, unter der er sich verkrochen hat, einfach weg.

Er will danach greifen, doch Naina hat sich bereits neben ihn gesetzt und hält sie hinter ihrem Rücken versteckt. Immer noch mürrisch, dass der Traum so abrupt beendet wurde, setzt er sich auf. Das fröhliche Gesicht seiner Mama bringt seine gute Laune jedoch schnell zurück, denn er ist glücklich, dass er dieses Mädchen kennengelernt hat. Aber er ist ebenso bekümmert und sieht vorsichtig zu Naina. »Wärst du sehr traurig, wenn ich dich doch nicht mehr heirate, Mama?«

»Warum möchtest du mich nicht mehr heiraten, mein Schatz?«

Ihr überraschtes, gleichzeitig fragendes Gesicht verunsichert ihn, deshalb legt er seine Hände an ihre Wangen und erwidert ernst: »Ich habe dich wirklich lieb, Mama. Aber ich habe heute Nacht ein Mädchen kennengelernt. Sie werde ich heiraten, wenn ich groß bin.«

Um weiteren Fragen auszuweichen, befreit er sich rasch aus ihrer Umarmung und läuft ins Badezimmer, denn er kann es ihr nicht erklären. Es ist einfach ein Gefühl, das ihn beherrscht, seit er das Mädchen gesehen hat.

Während Siddharth die Zähne putzt, denkt er über den Traum nach. ‚Das war ein seltsamer Traum. Ich mag das Mädchen. Sie ist nett. Gar nicht so wie die Mädchen, die ich kenne. Das nächste Mal muss ich sie unbedingt nach ihrem Namen fragen.\' Auch Siddharth ist sich sicher, dass sie sich wieder treffen werden.

 ~~~~~

Drei Jahre später ...

Adrianna ist ganz aufgeregt, denn am nächsten Tag ist ihr zehnter Geburtstag. Endlich darf sie mit ihrer Oma in deren Tanzschule gehen. Sie liebt es, sich zur Musik zu bewegen, allerdings hatte sich ihre Oma bisher geweigert, sie auszubilden.

Ihre Großmutter hatte zwar schon bald das Talent ihrer Enkelin erkannt, wollte ihr aber das Tanzen nicht zu früh beibringen. Schade nur, dass Carmen kein Interesse daran hat. Es wird das erste Mal sein, dass Adrianna etwas ohne ihre beste Freundin lernen würde, weshalb Carlotta nicht sicher ist, ob die Begeisterung ihrer Enkelin für den Tanz anhalten wird.

Allmählich sinkt Adrianna in seligen Schlaf und befindet sich wieder in dem ihr mittlerweile sehr vertrauten Spiegelsaal, wo sie ungeduldig auf ihren Freund wartet. Seit jener Begegnung vor drei Jahren treffen sich die Kinder Nacht für Nacht in ihren Träumen.

Zwischen den beiden hat sich eine tiefe Freundschaft entwickelt, aber sie kennen immer noch nicht den Namen des Anderen. Jedes Mal, wenn einer die Frage danach stellt oder ihn selbst preisgeben will, wachen sie auf. Deshalb haben sie aufgehört zu fragen und genießen stattdessen die gemeinsamen Stunden.

Wie aus dem Nichts steht der Junge neben ihr. Es ist jede Nacht das Gleiche. Wenn sie sich treffen, fassen sie sich an den Händen und hüpfen übermütig zum Klang der Musik quer durch den ganzen Saal, bis sie kaum mehr Luft bekommen. Woher die Melodie kommt, wissen sie nicht, aber es ist stets eine andere. Manchmal traurig oder fröhlich, teils leise, gelegentlich auch laut, je nachdem, in welcher Stimmung die Kinder sind.

Als sie ihren Freund entdeckt, erzählt sie ihm aufgeregt die Neuigkeit. »Morgen ist mein Geburtstag. Meine Großmama nimmt mich mit in ihre Schule. Da sind nur Leute, die tanzen. Nur tanzen, sonst nichts. Ich war schon öfter zu Besuch dort. Das war ganz toll. Wie die sich bewegen. Genauso wie die Musik ist. Manche von denen können so gut tanzen, die erzählen dir Geschichten mit ihren Tänzen. Du kannst die Musik sehen.«

Mit weit aufgerissenen, strahlenden Augen greift sie nach Siddharths Händen und wirbelt mit ihm im Kreis herum. Der Junge lacht mit ihr und hält sie fest, damit sie nicht hinfällt. Er muss wirklich lachen, denn das Mädchen ist so aufgeregt, dass sie plappert. Sie sprudelt nur so vor Übermut, was ihm sehr gefällt.

»Wenn du gut genug bist, dann können wir ja gemeinsam tanzen.« Er zwinkert ihr dabei zu, denn er liebt es, sie zu necken.

»Ach du! Du kannst doch gar nicht tanzen. Jungs können überhaupt nicht tanzen«, entgegnet sie darauf vorlaut, doch ihre Antwort missfällt Siddharth.

Er bleibt abrupt stehen, wodurch Adrianna beinahe stolpert, aber er fängt sie geschickt auf und erklärt ihr energisch: »Ich werde einmal berühmt für meine Tänze. Die ganze Welt wird wissen, wer ich bin. Wirst schon sehen.« Er will aber nicht mit ihr streiten, deshalb nimmt er wieder ihre Hände und wirbelt ausgelassen mit ihr umher.

»Und ich denke mir die Tänze aus, die du dann vorführst«, ruft ihm Adrianna atemlos zu und lacht mit ihm, denn auch sie will nicht mit ihm zanken. Erst als sie fast keine Luft mehr bekommen, lassen sie sich auf die Knie fallen und strahlen sich glücklich an.

Eine Weile sitzen sie nur so da, lachen, halten sich an den Händen. Dann auf einmal wird Siddharth ernst und sucht Adriannas Blick.

Sie begehrt heftig auf. »Nein nicht. Lass das. Du darfst mich nicht nach meinem Namen fragen. Ich frage dich auch nicht. Ich will nicht, dass der Traum schon wieder zu Ende ist.« Adrianna schüttelt wild den Kopf und hält sich die Ohren zu.

»Hör mal. Wir kennen uns jetzt schon so lange. Ich will endlich wissen, wie du heißt. Wie soll ich dich denn nennen? Ich kann doch nicht immer ‘hey du’ sagen!« Er sieht sie dabei trotzig an. ‚Sie hat bestimmt einen wunderschönen Namen. Wenn ich ihn doch nur herausfinden könnte.\' Traurig erhebt sich der Junge und lässt enttäuscht den Kopf hängen. Er weiß zwar, dass die Frage nach ihrem Namen den Traum beendet, doch er brennt darauf, ihn zu erfahren.

Adrianna steht nun ebenfalls auf, blickt nachdenklich zurück. Sie kann es nicht leiden, wenn er so bedrückt ist, deshalb sagt sie stockend:

»Wir können uns ja Namen ausdenken. Ich überlege mir einen für dich und du dir für mich, okay? Und morgen treffen wir uns wieder. Dann werden wir uns beim Namen rufen können.«

Siddharth, überrascht und erfreut von ihrem Vorschlag, nimmt Adriannas Arm und wartet, bis sie ihn ansieht. »Ich habe bereits einen Namen für dich. Ich nenne dich Chandni. Das bedeutet Mondlicht. Weil wir uns nur in unseren Träumen begegnen.«

Für einen Moment kommt es Adrianna vor, als würde ihr Herz ungewöhnlich laut schlagen. ‚Das klingt schön‘ überlegt sie, bevor sie ihm antwortet. »Oh, das ist ein wundervoller Name. Ich mag ihn. So einen tollen Namen kann ich gar nicht für dich finden.«

Aus Freude über ihren neuen Namen umarmt sie ihn. »Akash!«, ruft sie auf eimal und ist überrascht, denn es kommt wie von selbst aus ihrem Mund. ‚Akash‘, wiederholt sie in Gedanken und sieht Siddharth verwirrt an. »Ich kenne dieses Wort überhaupt nicht. Es gefällt mir. Was mag es wohl bedeuten?«

Der Junge blickt verlegen zurück, denn er kennt dessen Bedeutung. »Es heißt der Himmel«, erklärt er ihr, woraufhin sie begeistert ausruft:

»Das passt doch! Ich werde dich Akash nennen. Weil es mit dir immer so wunderschön ist. Wie im Himmel.«

Als Carlotta an diesem Morgen in Adriannas Zimmer kommt, liegt ein seliges Lächeln auf deren Gesicht. Ganz sanft weckt sie das Mädchen, nimmt sie behutsam in ihre Arme und gratuliert ihr herzlich zu ihrem Geburtstag.

Adrianna umarmt ihre Großmutter ebenfalls, dabei plappert sie sofort munter drauf los: »Guten Morgen, Omi, ich freue mich schon so auf die Tanzschule. Werden mich die anderen nicht auslachen? Ich kann doch noch gar nicht tanzen. Weißt du, dass ich einen neuen Namen habe? Mein Freund im Traum hat mir einen geschenkt. Er nennt mich Chandni. Das bedeutet Mondlicht. Ich nenne ihn Akash. Das bedeutet der Himmel. Akash wird einmal ein berühmter Tänzer. Ich werde mir die Tänze für ihn ausdenken.«

Carlotta erschrickt, als sie ihre Enkelin so reden hört. Woher kennt das Kind diese Worte? Soweit sie wusste, hatte ihre Schwiegertochter nie Hindi mit ihr gesprochen.

»Adrianna Juanita Martinez. Ganz ruhig, junges Fohlen. Wenn du unablässig plapperst, kannst du dich nicht für die Schule fertigmachen. Hast du es dir anders überlegt? Möchtest du gar nicht mehr mit mir kommen? Wenn du nicht zum Unterricht gehst, dann bekommst du auch keine Tanzstunden.«

Adrianna stößt einen spitzen Schrei aus, befreit sich hastig aus Carlottas Armen und rennt ins Badezimmer. Von dort ruft sie: »Ich beeile mich, versprochen. Ich gehe in die Schule. Weil ich unbedingt tanzen lernen will.«

Vor dem Spiegel stehend murmelt sie, »Ich werde die beste Tänzerin auf der Welt. Und ich denke mir immer neue Tänze aus. Die werde ich alle Akash zeigen, damit er sie vorführen kann.«

Während sie sich für den Tag frisch macht, denkt sie glücklich an ihren Traum. ‚Endlich kann ich ihn beim Namen rufen. Mein Akash,. Mein bester Freund Akash. Davon muss ich unbedingt Carmen erzählen.\'

Sie kann sich genau vorstellen, wie ihre Freundin auf diese Neuigkeit reagieren wird. Die beiden erzählen sich stets alles und Carmen fragt sie beinahe jeden Morgen nach ihren Träumen. Dabei verdreht sie verzückt die Augen und ruft jedes Mal begeistert aus: »Ach AJ!«

Carmen nennt sie so, seit sie sich im Kindergarten kennengelernt hatten. Ihr Vater arbeitet im Generalkonsulat in München und nimmt seine Familie oft auf Reisen mit. Dadurch waren sie schon häufiger in den Staaten und Carmen lernt begeistert die englische Sprache. Deshalb benutzt sie die Anfangsbuchstaben der Vornamen Adriannas, nämlich Adrianna Juanita, und spricht sie in amerikanischer Art aus.

»AJ«, wird sie rufen. »Ich wünschte, ich hätte auch so entzückende Träume wie du.« Bei dem Gedanken daran muss Adrianna lachen, denn für Carmen ist zurzeit alles entweder entzückend oder entsetzlich.

Carlotta eilt unterdessen in die Küche. Dort nimmt sie das Telefon, wählt und wartet ungeduldig, dass der Teilnehmer am anderen Ende das Gespräch entgegennimmt.

»Chandra? Waren in letzter Zeit Fremde in Adriannas Nähe?« Sie hört gespannt, was der Mann zu berichten hat und erwidert am Ende erleichtert: »Gut, ich danke dir. Bitte pass gut auf. Sorge dafür, dass das so bleibt. Ich möchte meine Enkelin nicht auch noch verlieren.«

Sie ist froh über das, was ihr der Mann berichtet hat, doch es erklärt immer noch nicht, woher Adrianna diese Worte kennt. Der Junge, von dem ihre Enkelin seit Jahren träumt, hat ihr die Namen vermutlich beigebracht und darüber muss sie schmunzeln. Denn sie freut sich, dass auch Adrianna die Fähigkeit des Träumens geerbt hat, doch als sie sich nun umdreht, bemerkt sie ihre Enkelin, die in der Tür steht.

»Wer ist Chandra, Oma?«

Schuldbewusst und verlegen macht sie sich daran, den Tisch zu decken und antwortet ihr nur ausweichend. »Ach niemand. Er hat sich nur verwählt. Möchtest du jetzt frühstücken? Ich habe all deine Lieblingssachen eingekauft.«

Adrianna kaut nachdenklich an ihrer Lippe. Sie weiß, dass ihre Großmutter etwas vor ihr verheimlicht. Aber sie kommt einfach nicht hinter das Geheimnis. »Ich will nur Tee und Müsli«, antwortet sie deshalb enttäuscht.

Schweigend und völlig in Gedanken versunken sitzen beide am Tisch.

 ~~~~~ 

Fünf Jahre später ...

Adrianna liegt auf ihrem Bett und telefoniert mit Carmen. Sie muss ihre Freundin trösten, denn sie hat den ersten Liebeskummer. Ein Junge aus ihrer Parallelklasse hat ihr Herz erobert, nimmt sie aber gar nicht wirklich wahr. Deshalb läuft sie in letzter Zeit ziemlich verheult herum.

Allmählich wird es Adrianna jedoch zu bunt, deswegen redet sie aufgebracht auf ihre Freundin ein. »Hör sofort auf mit dem Geheule. Ich möchte, dass du dich vor den Spiegel stellst und dich genau anschaust. Was siehst du?«

»Verquollene Augen und eine rote Nase«, antwortet sie schluchzend. »Das ist so ungerecht, AJ. Du bist ...«

»Schluss jetzt«, unterbricht Adrianna die Freundin ungeduldig, denn sie weiß schon, worauf das wieder hinausläuft. Carmen würde sich mit ihr messen, dabei sind die Freundinnen so unterschiedlich, dass man sie gar nicht miteinander vergleichen kann.

Carmen ist ziemlich groß und schlank. Ihre hellblonden, gelockten, Haare reichen ihr bis zur Schulter. Normalerweise strahlen ihre Augen in tiefstem, fast violettem Blau, aber die Tränen lassen sie zurzeit recht matt erscheinen. Ihre Stupsnase zieren unzählige Sommersprossen und sie hat zwei niedliche Grübchen neben den Mundwinkeln die sich, wenn sie lacht, noch vertiefen.

Adrianna hingegen ist etwas kleiner, schmaler, ja beinahe dürr. Ihre langen Haare, die, genau wie ihre Augen, fast schwarz sind, und ihr in üppiger Pracht bis zur Hüfte reichen, trägt sie ausnahmslos hochgesteckt.

»Lass endlich das Gejammer sein. Komm auf andere Gedanken. Lächle doch mal dein Spiegelbild an. Du wirst sehen, was ich meine. Du bist wirklich schön. Ich beneide dich um deine helle Haut. Ich wirke immer so schmutzig neben dir.«

Sie hört Carmen selbst durch das Telefon schlucken und es tut ihr sofort leid, dass sie so schroff zu ihr war. Bevor sie jedoch etwas sagen kann, antwortet ihre Freundin kleinlaut:

»Entschuldige, AJ. Ich weiß, dass ich eine Heulsuse bin. Ich gelobe Besserung, das verspreche ich dir. Du darfst nicht mehr böse mit mir sein.«

Noch ehe die Freundin wieder zu schluchzen beginnen kann, lacht Adrianna ins Telefon. »Also gut. Wenn morgen alles anders ist, dann bin ich nicht mehr sauer. Schlaf gut und träum was Lustiges.« Damit legt sie auf.

Eine Weile liegt sie noch wach, denkt an ihre Freundin und deren Liebeskummer. ‚Ich werde mich nicht verlieben. Das ist doch albern, dass man sich dabei so schlecht fühlt. Wozu soll das gut sein, wenn man doch nur leidet.\' Während sie noch darüber nachdenkt, schläft sie langsam ein.

In ihrem Traum wartet Adrianna ungeduldig auf Akash, denn er hat heute Geburtstag. Weil sie ihm nichts überreichen kann, hat sie sich einen Tanz für ihn ausgedacht, den sie nun, als ihr das Warten zu lange dauert, noch einmal übt.

Da sie ihn sehr mag, ist es ihr wichtig, ihm eine Freude zu bereiten, ihn zu überraschen und dabei keinen Fehler zu machen. Sie kann es überhaupt nicht leiden, wenn er enttäuscht ist, weil seine Augen dann so seltsam funkeln. Gleichzeitig sehen sie derart schön aus, dass man den Blick gar nicht mehr abwenden möchte.

‚Willst du nur vor dich hinträumen oder den Tanz üben? Wenn du nicht achtgibst, fällst du vor ihm auf die Nase. Also los, sonst ist er am Ende wirklich noch enttäuscht.‘ Adrianna ruft sich zur Ordnung, schließlich muss sie sich auf den Tanz konzentrieren und darf an nichts anderes denken, aber ihre Gedanken schweifen von neuem zu ihrem Freund ab.

In den letzten Jahren haben sie viel zusammen getanzt. Jeden Schritt, den Adrianna gelernt hat, zeigte sie auch Akash, der ihre Leidenschaft teilt. Er kann ebenso gut tanzen wie sie. ‚Vielleicht sogar besser‘, überlegt sie und kaut dabei wieder einmal an ihrer Lippe.

In diesem Moment taucht Siddharth auf. Ehe er zu ihr geht, beobachtet er sie eine Weile. ‚Sie ist ein tolles Mädchen. Ich kenne niemanden, der so ist wie sie. Nie sucht sie Streit. Selbst wenn sie traurig ist, genügen ein paar Worte, um sie zum Lachen bringen. Wenn sie lacht, dann lacht die ganze Welt. Und ihre Augen glänzen wie zwei tiefe Seen.\'

»Chandni! Wartest du schon lange?«

Adrianna blickt erfreut auf und läuft jubelnd auf ihren Freund zu. »Herzlichen Glückwunsch zu deinem fünfzehnten Geburtstag, Akash. Ich kann dir zwar kein richtiges Geschenk überreichen, aber ich habe einen Tanz für dich. Magst du ihn dir ansehen?« Mit strahlenden Augen sieht sie zu ihm auf.

Er grinst sie schelmisch an und zwinkert ihr frech entgegen. »Bekomme ich denn keinen Kuss zum Geburtstag?«

Ohne sich Gedanken darüber zu machen, tritt sie näher an ihn heran. Sie legt ihre Hände auf seine Schultern, wie sie es schon so oft getan hat, wenn sie zusammen tanzten, doch dieses Mal ist es anders. Für einen Moment hat sie das Gefühl, als würden winzige Stromschläge durch sie hindurch fließen. Sie spürt, wie er ihre Taille umfasst, und als sich ihre Blicke treffen, durchströmt sie ein heftiges Kribbeln. Seine Augen funkeln dunkel und lassen ihr Herz schneller schlagen.

Verwundert und neugierig schaut Siddharth in ihr Gesicht, denn er spürt eine Veränderung. ‚Ich habe sie doch schon früher angefasst, wenn wir getanzt haben. Heute fühlt es sich seltsam an.\' Sein Herz schlägt hart in seiner Brust und sein Mund fühlt sich wie ausgetrocknet an.

Adrianna stellt sich auf die Zehenspitzen, nähert sich zögernd seinem Mund und dann, ganz leicht, berührt sie seine Lippen, doch einen Wimpernschlag später wachen beide erschrocken auf.

‘Was ist das für ein eigenartiges Gefühl?’ Adrianna fällt es schwer, ruhig zu atmen, denn ihr Herzschlag beruhigt sich nur langsam und mit zittrigen Fingern berührt sie ihre Lippen, die immer noch prickeln. Für einen winzigen Augenblick hat sie ein schlechtes Gewissen, befürchtet, etwas Falsches getan zu haben. Diesen Gedanken schiebt sie jedoch rasch beiseite. Obwohl sie sich nicht erklären kann, was gerade geschehen ist, legt sich ein seliges Lächeln auf ihr Gesicht, als sie die Augen schließt. In dieser Nacht träumt sie jedoch nicht mehr von ihrem Akash.

Siddharth geht es wie Adrianna. Die kurze Berührung ihrer Lippen hat ihm fast den Atem geraubt, sein Mund ist immer noch ganz trocken. Aufgewühlt wälzt er sich im Bett umher, und als er endlich wieder ruhig atmen kann, flüstert er in die Dunkelheit: »Ich liebe dich, Chandni.«

In der folgenden Nacht:

Adrianna läuft nervös im Spiegelsaal umher und kaut unentwegt an ihrer Lippe, weil sie sich nicht sicher ist, ob sie Akash wiedersehen wird. Den ganzen Tag hat sie an ihn denken müssen, daran, dass sich etwas geändert hat. Sie ist verwirrt und kann sich ihre Gefühle nicht erklären. Es ist, als hätte jemand einen Eimer voller Schmetterlinge in sie hineingekippt, die seither aufgeregt in ihr umherflattern.

Bisher dachte sie ohne Scheu an ihren Freund. Aber nun? Sie kennt ihn sehr genau, weiß, was ihn wütend macht. Seine Stimme dröhnt dann laut und seine Nasenflügel blähen sich auf. Wenn er traurig ist, spricht er meist nur flüsternd, während auf seiner Stirn eine Ader hervor tritt. Sein Lachen ist ansteckend und dabei strahlen seine wunderschönen grünen Augen.

Den Blick, den er ihr gestern zugeworfen hatte, konnte sie nicht einordnen. Er sah sie an, als wäre sie eine Fremde, doch sein Gesicht hatte einen zärtlichen Ausdruck, den sie vorher noch nie bemerkt hatte. Der Gedanke an die vergangene Nacht verstärkt das Kribbeln in ihrem Inneren und mit einem Mal sieht sie ihren Freund mit anderen Augen.

‚Akash ist eigentlich hübsch anzuschauen. Warum ist mir das bisher nicht aufgefallen?‘ Dabei betrachtet sie sich gedankenverloren im Spiegel und rümpft die Nase, ist unzufrieden mit dem, was sie sieht, denn sie hat noch immer eine mädchenhafte Figur und wünscht sich einmal mehr, schon so weibliche Rundungen wie ihre Freundin zu haben. ‚Akash ist so schön, groß und stark. Er sieht aus wie Adonis‘, schwärmt sie vor sich hin und hofft unterdessen inständig, dass er bald kommen möge.

»Träumst du?«, hört sie nur wenig später Akashs Stimme und sofort beginnt ihr Herz wieder zu rasen. Er lächelt ihr zu, aber es ist nicht das gleiche Lächeln wie sonst, es ist irgendwie traurig, weshalb sie ihn nun besorgt ansieht.

»Ist etwas geschehen? Du siehst ziemlich geknickt aus.«

Siddharth hat befürchtet, dass sie die Veränderung spüren würde. Er kann es nicht erklären, aber er sieht Chandni mit anderen Augen. Sie ist schon fast eine junge Frau. Seine Chandni ist zwar immer noch das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte, aber sie ist eben kein Mädchen mehr. Wenn er an sie denkt, beschleunigt sich sein Herzschlag. Er spürt, wie sich die feinen Härchen auf seinen Armen und im Nacken aufrichten und ein aufregendes Prickeln seinen Körper überzieht.

»Warum sollte ich auch fröhlich sein? Du hast mir gestern einen Tanz versprochen. Ich habe ihn aber nicht bekommen«, entgegnet er ausweichend und hofft, dass sie ihm diese kleine Lüge abkauft.

»Es tut mir leid«, flüstert Adrianna verlegen. »Der Traum war vorbei, bevor ich dir dein Geschenk geben konnte. Bist du mir böse?«

Siddharth möchte am liebsten Schreien. Er will sie in seine Arme reißen und ganz fest halten. Gleichzeitig will er mit ihr tanzen und sie herumwirbeln, stattdessen zwinkert er ihr schelmisch zu. »Ja, ich bin dir böse. Ich stehe nun schon eine Ewigkeit hier. Und du hast mich noch nicht richtig begrüßt. Und meinen Tanz will ich trotzdem noch haben.« Mit einem Funkeln in den Augen verschränkt er die Arme und blickt ihr herausfordernd entgegen.

Adrianna ist für einen Moment verwirrt, beinahe enttäuscht, denn offenbar hat Akash nicht bemerkt, was in ihr vorgeht. Für ihn scheint sie immer noch das nette Mädchen zu sein, mit dem er sich gerne trifft, weil sie die gleichen Interessen haben. ‚Und wenn du ihn nicht verlieren willst, dann lass es dabei. Er ist schließlich dein bester Freund. Mehr nicht‘, ermahnt sie sich selbst.

Die Hände in die Hüften gestemmt setzt sie nun eine ernste Miene auf und entgegnet: »Ich war zuerst hier, Schätzchen. Also musst du mich begrüßen. Und deinen Tanz wirst du schon noch bekommen.«

‚Sie hat mich Schätzchen genannt‘, jubelt Siddharth innerlich. Sein Herz macht einen Sprung vor Freude. Stürmisch reißt er sie in seine Arme und dreht sich ausgelassen mit ihr. »Liebste Chandni. Bitte schimpf nicht mit mir. Ich will auch ganz artig sein. Bekomme ich dann noch meinen Tanz?«

Die Schmetterlinge in Adriannas Bauch schwirren in hellem Aufruhr umher. ‚Liebste Chandni‘, wiederholt sie in Gedanken. Sie lächelt dabei, bemerkt allerdings, wie sie rot wird. Deshalb befreit sie sich verlegen aus seinen Armen und entfernt sich einige Schritte von ihm. ‚Ich kann nicht denken, wenn er mir so nahe ist.\' Um sich zu beruhigen, atmet sie tief durch, dann gibt sie lächelnd zurück:

»Also gut. Ich zeige dir den Tanz einmal. Dann musst du genau das Gleiche machen wie ich«, und gleichzeitig beginnt sie, sich im Takt der Musik zu bewegen.

Siddharth beobachtet sie dabei fasziniert. ‚Sie ist wirklich gut. Ich kann die Musik sehen. Sie erzählt eine reizende Geschichte.\' Aufmerksam verfolgt er jeden ihrer Schritte, jede Körperbewegung, jede Geste und am Ende des Stücks klatscht er begeistert Beifall. »Das war großartig, Chandni. Willst du es mir beibringen?«

Unendlich erleichtert darüber, dass es ihm gefallen hat, nickt sie eifrig. Dann beginnen sie, die Choreographie einzustudieren. Adrianna ist beeindruckt, wie schnell sich Akash nicht nur die Schritte und Drehungen, sondern auch ihre Gesten und Mimik eingeprägt hat.

 ~~~~~ 

Wieder sind drei Jahre vergangen ...

Adrianna erwacht langsam aus ihrem Traum. ‚Ach Akash. Könntest du doch in meiner Welt leben‘, dabei vergräbt sie seufzend das Gesicht in ihrem Kissen. Sie würde es unter keinen Umständen zugeben, aber sie hat sich tatsächlich verliebt. Wenn sie an ihren Freund denkt, lächelt sie verträumt vor sich hin, doch sie erzählt niemandem davon, selbst Carmen nicht.

Ihre Freundin weiß zwar über die Träume Bescheid und obwohl sie sonst alles mit ihr teilt, verrät sie ihr nichts von ihrer Liebe zu Akash. Denn das ist etwas, das sie ganz für sich allein behalten möchte. Jetzt gefriert ihr Lächeln, weil sich ihre innere Stimme der Vernunft meldet, wie so häufig in den letzten drei Jahren. ‚Das ist kindisch und sind nur Träumereien. Es wird Zeit, endlich aufzuwachen. Diese unsinnige Schwärmerei von einem Mann, der nur in deiner Fantasie existiert, bringt doch nichts.‘

Als sie hört, wie ihre Großmutter in der Küche hantiert, ignoriert sie die innere Stimme und steigt aus dem Bett. Heute fällt es ihr besonders schwer aufzustehen und so trottet sie verschlafen ins Badezimmer, um sich für den Tag frisch zu machen.

»Weshalb das alles eigentlich?« Diese Frage stellt sie ungehalten an ihr Spiegelbild. »Warum kann ich nicht einfach nur tanzen. Wieso zwingt mich Oma zu diesem blöden Studium. Ich werde mein ganzes Leben ganz sicher nichts anderes tun, als tanzen. Wozu soll ich also Zeit damit vergeuden, um in Hörsälen stumpfsinnige Vorträge über Computer und deren Sprache anzuhören.«

Seufzend tritt Adrianna unter die Dusche. Als sie im Bad fertig ist und sich ankleidet, lächelt sie sich aufmunternd im Spiegel an. »Wenn ich es schon nicht ändern kann, dann sollte ich wenigstens das Beste daraus machen.« Heute wird ihr erster Tag an der Uni sein, sie hat sich für ein IT-Studium entschlossen.

Carlotta hatte ihre Enkelin zu einer weiteren Ausbildung überredet. Adrianna sollte sich nicht darauf verlassen, ihren Unterhalt immer mit dem Tanz verdienen zu können. Mit einem weiteren Beruf, neben dem als Tänzerin, wäre sie in der Lage, ihr Leben zu meistern. Außerdem, so erklärte ihr die alte Dame eindringlich, würde es ihren Horizont erweitern und es könne nicht schaden, sich noch andere Kenntnisse anzueignen.

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